Jüdisches Museum Wien: Ausstellung „Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938“

Laudatio: Ines Weizman. Albertinum/Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 8. Dezember 2017

Diese Ausstellung, die aus einer mehrjährigen und wirklich bemerkenswerten Forschungsarbeit entstanden ist, behandelt zum einen die Bedingungen, unter denen es jüdischen Künstlerinnen zwischen etwa 1860 und 1938 in Wien gelang, sich Ausbildungs‐ und Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen und ihren selbstgewählten Beruf professionell auszuüben. Zum anderen versucht sie, anhand von Werken und detailliert recherchierten Biografien zu vermitteln, was diese Künstlerinnen auch tatsächlich erreicht haben und welch erhebliche (heute allerdings zumeist unbekannte) Rolle sie zu ihrer Zeit im Kunstbetrieb spielten. 

Das Projekt hat den großen Verdienst, nicht nur einen wichtigen Teil der österreichischen Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neu entdeckt zu haben, sondern auch, eindringlich den großen Verlust zu dokumentieren, welcher in Österreich, Deutschland und Europa durch die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in der Kunst entstanden ist. Das Projekt würdigt erstmals qualitativ und quantitativ die Rolle jüdischer Künstlerinnen in der Wiener Kunstwelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ermöglicht einen Überblick über die großen künstlerischen Leitlinien und Einflüsse wie auch das intensive Studium der Werke. Kuratiert wurde die Ausstellung von Frau Andrea Winklbauer und Frau Dr. Sabine Fellner. Conny Cossa und Julia Nuler haben die Ausstellung gestaltet.

Andrea Winklbauer stammt aus Wien, studierte Kunstgeschichte und ist als Kunst-, Film- und Kulturhistorikerin sowie Kunstkritikerin tätig. 2008 wurde sie Kuratorin im Jüdischen Museum Wien, wo sie bereits seit 1992 an Ausstellungen mitwirkte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den wechselseitigen Einflüssen von Kunst, Fotografie und Film sowie auf der österreichischen Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien um 1900 und der Zwischenkriegszeit sowie Exilforschung. Sie hat zu diesen Themen zahlreiche Publikationen über Kunst, Kulturgeschichte, Fotografie und Film herausgegeben. Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Kunst von Frauen. 1999 hat sie an „Jahrhundert der Frauen“, eine der ersten Ausstellungen zu diesem Thema in Wien im Kunstforum der Bank Austria mitgearbeitet. 2012 kuratierte sie zusammen mit Iris Meder für das Jüdischen Museum Wien die Ausstellung „Vienna’s Shooting Girls. Jüdische Fotografinnen aus Wien in der Zwischenkriegszeit“.  Ihr aktuell gezeigtes Ausstellungsprojekt behandelt ebenfalls historische Fotografie. Hier geht es um Fotografien von Ze’ev Aleksandrowicz zwischen 1932 und 1936 in Palästina vor der Staatsgründung Israels. 

Sabine Fellner studierte Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Wien und an der Sorbonne in Paris. Zwischen 1989-1993 war sie als Kuratorin im Österreichischen Tabakmuseum tätig und promovierte in dieser Zeit. Seit 1994 beschäftigt sie sich als Kuratorin mit gesellschaftspolitisch aktuellen Fragen, , wie 2012 in der Ausstellung Der nackte Mann, oder 2015 in der Ausstellung Rabenmütter, die beide im LENTOS Kunstmuseum Linz zu sehen waren. Aktuell ist von ihr sowohl die Ausstellung Sterne. Kosmische Kunst von 1900 bis heute im LENTOS Kunstmuseum Linz zu sehen, die sie gemeinsam mit Elisabeth Nowak Thaller kuratiert hat, als auch die Ausstellung Die Kraft des Alters im Museum Belvedere in Wien. 2018 wird sie eine Ausstellung für das Austrian Cultural Forum in New York über zeitgenössische österreichische Künstlerinnen kuratieren. Sie publizierte zahlreiche Aufsätze und Kataloge zum Thema Alltagskultur und zur österreichischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und war damit wohl eine ideale Partnerin für eine Zusammenarbeit mit Andrea Winklbauer am Ausstellungsprojekt über jüdische Künstlerinnen in Wien.

Für die heute mit dem Hans und Lea Grundig Preis ausgezeichnete Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 war es den Kuratorinnen ein besonderes Anliegen, zu vermitteln, wie schwierig es für Frauen dieser Zeit war, den Beruf der Künstlerin zu ergreifen und auszuüben. Dabei waren sie selbst überrascht zu entdecken, dass es in Wien tatsächlich eine weibliche Avantgarde gab. Da aber viele aus assimilierten jüdischen Familien stammten, wurden diese jüdischen Vertreterinnen aufgrund der Verfolgung ab 1938 in Österreich aus der Kunstgeschichte gestrichen. In ihrem, über 200 Seiten starken und mit zahlreichen Abbildungen versehenen Katalog beschreiben sie, wie Frauen von der männlich dominierten Kunsttheorie Themen aus der Natur und der häuslichen Sphäre zugeschrieben wurden. Dabei interessierten sich viele der engagierten Künstlerinnen explizit für soziale und politische Themen ihrer Zeit wie die Lebensbedingungen der Unterschicht, Prostitution, Krieg, und den aufkommenden Faschismus.  Die Wissenschaftlerinnen versuchten in mühsamer Recherchearbeit, die mehr als 40 Lebensläufe von Künstlerinnen zu rekonstruieren. Einige Frauen, denen die Flucht ins Exil gelang, konnten sie in der Nachkriegszeit wiederfinden, doch nur wenige von ihnen waren weiterhin künstlerisch tätig. Von vielen verlor sich in schmerzlicher Weise die Spur.

Ein weiteres zentrales Thema der Ausstellung ist der mit der Vertreibung einhergehende Verlust ganzer œuvres. Hier bewegt die Geschichte der Malerin Bettina Ehrlich‐Bauer, die den Großteil der Arbeiten ihres Ehemannes, des Bildhauers Georg Ehrlich, ins englische Exil übersiedelte, jedoch ihre eigenen spektakulären Werke in Wien zurückließ. Ein Teil dieser, seit 1945 verschollenen Gemälde war nur durch zeitgenössische Fotografien in schwarz/ weiß überliefert. Um die Eindringlichkeit des Motivs, aber auch den wohl endgültigen Verlust des Werkes hervorzuheben, haben die Ausstellungsmacherinnen eine Farbrekonstruktion von einem Selbstportrait der Künstlerin von 1928 anfertigen lassen. Das eindringliche Bild wurde als Titelbild der Ausstellung gewählt und verweist nicht nur auf die akribische Forschungsarbeit, die einer Art Spurensicherung gleicht, sondern zeigt auch, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte und deren Vermittlung immer wieder neue kreative Gesten der Aneignung und Vergegenwärtigung erfordert. Denn schließlich charakterisiert sich doch eine große Ausstellung durch ihre Fähigkeit, mit der Gegenwart sprechen zu können. Das heißt gerade im derzeitigen politischen Klima, die Herausforderungen unserer Gegenwart, komplexe zeithistorische Umstände und Kontexte zu verstehen und zu dokumentieren, anzunehmen und jene Fäden wiederzufinden, die unsere fragilen zeitgenössischen Kulturen mit Elementen der Vergangenheit verbinden. 

Diese Ausstellung schafft jene unglaubliche zeitliche Montage, eine Kombination von zeitlichen Epochen, die so harsch und grausam voneinander getrennt wurden, in einem konstruktivistischen Sinne, wieder übereinanderzulegen. Denn die Kuratorinnen verstehen es, der Vergangenheit mit den intellektuellen Instrumenten und der Sensibilität unserer Zeit zu begegnen. Die Ausstellung entstand gewiss auch nicht allein aus einem, dem Fach verpflichteten Sinn für eine Komplementierung einer noch zu wenig untersuchten Fragestellung, sondern reflektiert ja auch die Herausforderungen unserer Gegenwart, in der Frauen noch immer um ihre Gleichberechtigung kämpfen müssen, in der wir uns alle den Problemen, die sich aus der Zuschreibung und Reproduktion von Geschlechterverhältnissen ergeben, widmen müssen. Ja nicht zuletzt auch in einer Zeit des hashtags me too, in der wir immer mehr versuchen müssen, die Stille und das Wegsehen zu brechen. Dies ist nicht nur ein politischer Kampf, sondern auch ein Kampf, in der sich jede und jeder – nicht nur Kulturschaffende – darüber Gedanken machen muss, wie Sie die ihr zugänglichen Medien und die ihr naheliegende Expertise oder Disziplin nutzen kann, um eine Position zu artikulieren und letztlich mit Kompetenz und Engagement ganz neue Lesarten und Überzeugungen – ja neues Wissen zu produzieren; nicht zuletzt, um die vorherrschenden Machtstrukturen zu unterwandern und zu verändern. Gesellschaftskritik zeigt sich hier als eine Praxis, die sich auf einem Spektrum von Möglichkeiten zwischen Konsens auf der einen Seite und Aktivismus auf der anderen bewegt. 

Der Hans und Lea Grundig Preis möchte Arbeiten, die sich mit dieser radikalen Neugestaltung der ästhetischen Gegebenheiten auseinandersetzen, auszeichnen. Hier ist es eine Ausstellung, die versucht, den Anspruch aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu vermitteln, um damit das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, oder zwischen den Wörtern und den Körpern zu verändern. Dabei waren die Protagonistinnen, die in dieser Forschungsarbeit untersucht wurden, schwierig zu rekonstruieren, denn ihre Konturen – waren sie einmal nachgezeichnet – verblassten allzu leicht wieder in der Unschärfe einer kaum rekonstruierbaren Alltagswelt, oder einem nicht mehr nachvollziehbaren Verständnis der damaligen Gefahrenlage und Risiken bei Äußerung freier, gesellschaftspolitischer, künstlerischer Gedanken. 

Trotz der Schwierigkeiten, die Lebensläufe der Frauen, aber auch das Leben und den Verbleib der Kunstwerke zu erforschen, schafft es die Ausstellung, die wiedererweckte Selbständigkeit und Emanzipation von Frauen nachzuzeichnen. Sie verweist schließlich auch auf die doppelte Hürde der Unterdrückung der Frauen –  der ihres Judentums, als auch der des Familienpatriarchats innerhalb ihrer Gemeinschaft, die es zu überwinden galt; aber auch auf ihren Kampf um Anerkennung und Unabhängigkeit als Künstlerinnen männlich dominierten Kunstszene und dazu noch als jüdische Künstlerinnen. Doch ihre Modernität lag nicht allein in ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit, sich als Frauen zu behaupten, sondern auch in der Erfahrung der Diaspora und des Exils. Man könnte behaupten, es gibt keine Moderne, die statisch ist. Die Moderne artikuliert sich durch die Bewegung des Autos, des Zuges, des Flugzeugs, den Medien, dem Radio, dem Film und durch die Bewegung der ProtagonistInnen über Grenzen hinweg. In Wien als sogenannten Schmelztiegel der Kulturen kamen alle diese Bewegungen zusammen. Die Künstlerinnen waren unmittelbar Teil dieser Moderne und prägten sie. Und tragischer Weise gehörte auch ihre grausame Umkehrung zu dieser Moderne.

Heute ist es eine besondere Aufgabe für HistorikerInnen und ForscherInnen, die Migrationsgeschichte dieser so harsch unterbrochenen emanzipatorischen Moderne, die auf den vielfältigen Wegen des Exils in die Welt hinausgetragen wurde, zu erfassen und darzustellen. Denn gemeinsam mit ihren Autoren und Treuhändern wurden auch Dokumente und Werke auf international verschlungene Wege gebracht, die oft zu schwierig zu durchschauenden Besitzverhältnissen führten. Die Geschichte der Migration ist somit auch die Geschichte von Objekten, die sich durch Verwahrungsstrukturen, Streitigkeiten und juristischen Auseinandersetzungen und im Spiegel von neuen Forschungsergebnissen und noch unbekannten Werken immer wieder neu positionieren und oftmals auch zu korrigieren sind. Doch wir müssen uns heute gerade in Hinblick auf die derzeitigen großen Ausrufungen der Diktatoren und den geopolitischen Turbulenzen und Tragödien dieser Welt, jener doch so dünnen Fäden der Geschichte bewusst werden, die Menschen über Kontinente und Generationen hinweg flechten.

Die Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 von Andrea Winklbauer und Sabine Fenner hat uns dieses fragile Netzwerk vorgestellt, aber uns auch genug Zugang zu Anknüpfungspunkten ermöglicht, es zu erkunden und zu erweitern und aus den Fäden des Exils neue Fäden der Freundschaft und der Anerkennung zu spinnen. Gerade weil diese so sensibel recherchierte Arbeit tatsächlich die BetrachterInnen packt und auf völlig neue Gedankenwege bringt, hat sich die Jury für dieses Ausstellungsprojekt entschieden. Wir hoffen, dass es als Ausstellung noch an anderen Orten gezeigt werden kann und Sie weiterhin  viel Erfolg, Enthusiasmus und Inspiration finden, um Ihre Forschungsarbeit fortzusetzen und neue Projekte zu erkunden.

Rachel Stern: Ausstellungs- und Publikationsprojekt Leben ist Glühn“ — Der Expressionist Fritz Ascher

Laudatio: Angelika Timm. Albertinum/Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 8. Dezember 2017

Die Kunsthistorikerin Rachel Stern, seit 2014 ist Direktorin und Geschäftsführerin der Fritz Ascher Society für verfolgte, verfemte und verbotene Kunst mit Sitz in New York, widmet sich seit Jahren der Aufgabe, das Leben und Schaffen von Künstlerinnen und Künstlern, deren Biographien aufgrund von Verfolgung, Leben im Untergrund, Haft oder Exil nicht geradlinig verliefen, dem Vergessen zu entreißen und zu würdigen.

Seit 1990 hat sie das Leben und Werk des aus Berlin stammenden und von den deutschen Nationalsozialisten verfolgten und verfemten Expressionisten Fritz Ascher (1893–1970) erforscht. Ein beeindruckendes Ergebnis ihrer Recherchen ist der knapp 300 Seiten umfassende Bild- und Textband „Der Expressionist Fritz Ascher: Leben ist Glühn“, veröffentlicht 2016 durch den Wienand-Kunstbuch-Verlag in Köln. Er enthält ca. 100 Zeichnungen, Gouachen und Gemälde aller Schaffensphasen Aschers sowie eine Vielzahl von Dokumenten und Fotos. Hervorhebenswert ist ferner die Publikation bisher weitgehend unbekannter Gedichte des Künstlers. Neben den biografischen Ausführungen der Autorin, betitelt „Fritz Ascher: Ein Leben in Kunst und Dichtung“, werfen vier weitere wissenschaftliche Artikel Licht auf unterschiedliche Schaffensperioden.

Sterns eingereichte Arbeit stellt nicht nur die erste wissenschaftliche Kontextualisierung Fritz Aschers dar, sondern sie würdigt diesen fast vergessenen Vertreter der Moderne auch in einer umfangreichen Wanderausstellung, die bislang in Osnabrück und Chemnitz zu sehen war und nunmehr in Berlin und Potsdam gezeigt wird.

Der 1893 in Berlin geborene Fritz Ascher studierte, hochtalentiert, auf Empfehlung von Max Liebermann in Königsberg, Berlin und München und war mit der deutschen Avantgarde persönlich vertraut und eng verbunden. Aus einer assimilierten jüdischen Familie stammend, wurde er von den Nationalsozialisten aufgrund seiner Herkunft, jedoch auch als entarteter Künstler und politisch Verdächtiger verfolgt und zeitweise interniert. In einem Versteck in Berlin-Grunewald überlebte er die NS-Zeit. Seine im Untergrund verfassten Gedichte atmen Lebensfreude, sind aber auch ein Aufschrei angesichts von Krieg und Verfolgung. „Hunger und Angst verließen ihn nie“, schreibt Rachel Stern über diese Zeit. Das Leben im Versteck prägte die künstlerischen Arbeiten Aschersauch nach 1945. Den Menschen ausweichend wandte er sich nunmehr vor allem der Natur zu.

Rachel Stern gebührt nicht nur das Verdient, den Expressionisten Fritz Ascher wiederentdeckt und der internationalen Öffentlichkeit erstmals das gesamte Spektrum seines künstlerischen Schaffens vorgestellt zu haben, sondern sie hat auch den Menschen Ascher hinter den Kunstwerken sichtbar gemacht. Ihr Bestreben, einen Künstler, dessen Schaffenskraft durch die Nationalsozialisten zerstört oder eingeschränkt wurde, ins öffentliche Bewusstsein zurückzuholen, verbindet sich zudem mit der generelleren Aussage und Hoffnung, der menschliche Geist widerstehe der Barbarei und triumphiere letztlich über das Böse.

Rachel Stern legt mit ihrer deutsch-englischen Publikation eine wichtige Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit der deutschen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und mit dem Schicksal der „vergessenen Generation“ von Künstlerinnen und Künstlern der Avantgarde im Speziellen. Sie trägt dazu bei, Wahrnehmungslücken in der deutschen Kunstgeschichte, die insbesondere bezüglich relativ unbekannter Vertreterinnen und Vertreter des Expressionismus existierten und existieren, zu schließen. Buch und Ausstellung leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Zugleich stellt Sterns Arbeit eine Mahnung an die heutige Generation dar. Wie sie in ihrem Vorwort schreibt, bedeuten „die Entdeckung von Fritz Aschers Kunst und Gedichten und ihre zunehmende öffentliche Wahrnehmung und kunsthistorische Aufarbeitung […] den Triumph einer individuellen kreativen Vision über politische Unterdrückung.“

Afraa Batous: „Skin“ (2015)

Laudatio: Rosa von der Schulenburg. Albertinum/Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 8. Dezember 2017

„Skin“ ist ein über mehrere Jahre entstandener Dokumentarfilm von Afraa Batous, der in der Zeit kurz vor dem Krieg in Syrien seinen Ausgang nimmt, als die junge Filmemacherin und ihre Freunde in Aleppo noch als Theaterschauspieler arbeiteten. Es ist der zweite Dokumentarfilm und zugleich der erster lange Film von Afraa Batous. Am Beispiel ihrer beiden Freunde aus der Theatergruppe erzählt sie von den Hoffnungen und Träumen einer jungen syrischen Generation, dem kriegsbedingten Scheitern der Zukunftspläne in der Heimat, dem Aufbruch ins Ungewisse und dem Leben im Wartestand des Exils, das wohl Freiraum für Reflexion und Eigeninitiative bietet, jedoch keine Zukunftsperspektive. 

Der Film setzt ein mit einem an Heiner Müller gerichteten inneren Monolog und arbeitet mit dem Montageprinzip. Medial verfügbares Dokumentarmaterial aus unterschiedlichen Quellen sowie eigene filmische Beobachtungen im sich verändernden Außenraum werden kurz geschlossen mit intimen Sequenzen aus dem Alltag der beiden Freunde. 

Die beiden Protagonisten des Films, Hussein, der Brandredner und Souhbi, der eher unpolitische, trinkfreudige Künstler sowie Afraa selbst, die zurückhaltend verbindende und zugleich katalytische Figur, hatten in Aleppo die Aufführung von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ vorbereitet. Doch der Krieg macht ihre Pläne zunichte. 

Die „Hamletmaschine“, ein lediglich neunseitiges Theaterstück, war einst ein Angebot an die intellektuelle Linke der DDR, selbstbewusst und kritisch die eigene Rolle zu reflektieren. Die Introspektion und zugleich das Position-Beziehen nach Außen, die der legendäre Text offeriert und einfordert, ist Stichwortgeber für den Film und findet seinen Widerhall in den Dialogen und Kommentaren der Protagonisten. Symbolische Brechungen erfährt dies etwa in den Versuchen, im Exil ein Stück über eine Flüchtlingsfamilie zu inszenieren und ein Puppentheater zu basteln. Der Zuschauerraum bleibt leer; die Stoffpuppe ist versehrt und stumm. 

Neben zarten, anrührenden Momenten finden sich aber auch solche der Irritation. Etwa wenn in einem Demonstrationszug von noch friedlichen, aber aus westlicher Sicht unkalkulierbar bedrohlich wirkenden männlichen Massen, auch Banner des religiösen Fanatismus zu erkennen sind, oder wenn in einer kriegszerstörten Straße einer der im Staub vor Trümmern hockenden Männer Blut für Blut fordert. 

Die in jeder Hinsicht katastrophalen Verwüstungen können die drei jungen Theatermacher nicht wirklich mit dem Weggang aus der Heimat hinter sich lassen. Der Krieg ist auch im Exil präsent, hat die äußerlich friedliche neue Alltagswelt kontaminiert. Batous arbeitet mit ästhetischen Mitteln, die die äußeren wie inneren Konflikte in ihrer verstörenden Vielschichtigkeit zeigen, die Frage nach dem richtigen Handeln umkreisen und nicht in eindeutigen Antworten auflösen. 

Die Kameraführung, die Verschränkung der Vor- und Rückblenden und Schnitte sind präzise. Der Einsatz von Unschärfe und die Handlungs- und Wortarmut etlicher Sequenzen erscheint überzeugend motiviert. 

Die Protagonisten sind keine Helden. Ihr Reden und Tun mit den Selbstzweifeln und Hader, der hilflosen Wut und handlungsarmen Leerläufen berührt aber gerade dadurch so stark und bringt einem die Katastrophe des Krieges in Syrien näher als Nachrichtenmeldungen dies vermögen. Ein Film, der unter die Haut geht.

Die Filmmacherin lebt und arbeitet inzwischen in Deutschland.

Ines Weizman & Team: „Aus dem zweiten Leben. Dokumente vergessener Architekturen“ / „From the Second life. Documents of Forgotten Architectures“

Laudatio: Oliver Sukrow. Berlinische Galerie, 26. November 2015

Das interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungsprojekt kombiniert mit den beiden Medien Architektur und Film die Frage über das Schicksal von Architekt*innen und Künstler*innen, die von den Nationalsozialisten zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen worden waren. Ausgehend von Archivrecherchen und der Arbeit der deutsch-israelischen Architektin, Bauhistorikerin und Schriftstellerin Myra Warhaftig (1930-2008) auf dem Gebiet der Migrations- und Exilforschung, hat das vielköpfige Team um Weizman und Wolfram Höhne (Künstler, Filmemacher, Dozent), Markus Schlaffke (Künstler, Filmemacher, Dozent) und Volkmar Umlauft (Filmemacher, Dozent), eine beeindruckende, beziehungs- und perspektivreiche Arbeit vorgelegt.

Dabei geht es, wie der Titel verrät, sowohl um die biografischen Schicksale als auch um die Architekturen dieser Schicksale. Beide Kategorien entreißt das Projekt dem Vergessen und bringt nicht nur das Nachleben der im Exil errichteten Gebäude zu Tage, sondern auch das Nachleben der Gebäude, welche die Architekt*innen vor dem Verlassen ihrer Heimat zurückließen. Das Projekt versteht Architektur nicht nur als baulich umfassten Raum, sondern in erster Linie als soziale, politische und lebensweltliche Kategorie. So nimmt es konsequenterweise die verschiedenen Akteure in den Blick: die Architekt*innen, die Bewohner*innen, die Auftraggeber*innen, die Nutzer*innen. Durch diese differenzierten Perspektiven, die sich unter anderem auch in der formalen und medialen Vielfalt der Ausstellungsbeiträge widerspiegeln, gelingt es dem Projekt um Ines Weizman, die Dynamiken und Komplexitäten des „Systems Architektur“ zu veranschaulichen. Denn es fragt nicht nur nach der historischen Perspektive, sondern verschränkt den Blick zurück mit dem nach vorn: Wie werden die Architekturen heute genutzt, welche Perspektiven haben sie, was sind potentielle Umgangsformen mit diesen Zeugnissen des „Second Life“?  

Das kollektive Forschungs- und Filmprojekt, das im Sommer 2014 an der Bauhaus-Universität Weimar mit Studierenden der Fakultät Architektur und der Fakultät Medien erarbeitet und ausgestellt wurde, gefiel der Jury aus mehreren Gründen außerordentlich. Ich zitiere aus dem Juryurteil: 

„Das Projekt verbindet historische Recherchen mit eigener Filmproduktion. Es stellt in vieler Hinsicht ein gelungenes Experiment in der universitären Lehr- und Forschungsarbeit dar. Die Beobachtung von städtischen Räumen, Gebäuden, Plänen und Dokumenten wurde mit der Dokumentation von Lebensgeschichten so verbunden, dass ein weitreichendes wissenschaftliches Netzwerk entstand, das von einer intensiven Literaturrecherche, Anfragen in städtischen und privaten Archiven und Sammlungen bis hin zu schriftlichen Korrespondenzen und Interviews mit Familienangehörigen, Bewohnern, Historikern, Denkmalpflegern und Experten reichte.“

Ines Weizman ist seit 2013 Junior-Professorin für Architekturtheorie am Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung der Universität Weimar. Sie studierte Architektur in Weimar und an der Ecole d’Architecture de Belleville in Paris, an der Sorbonne, an der University of Cambridge und bei der Architectural Association in London, wo 2005 auch ihre Dissertation mit dem Titel „The Disappearance of Everyday Life in East Germany Since Reunification“ entstand. Sie unterrichtete unter anderem an der Architectural Association, am Goldsmiths College London, am Berlage Institut für Architektur in Rotterdam und an der London Metropolitan University.

Sie ist Herausgeberin des Buches “Architecture and the Paradox of Dissidence” (2014) sowie zusammen mit Eyal Weizman von “Before and After: Documenting the Architecture of Disaster” (2014). Ines Weizman hat diverse Artikel und Aufsätze unter anderem in ARCH+ und im Harvard Design Magazine publiziert und Beiträge für diverse Sammelbände verfasst. Außerdem ist Ines Weizman auch als Künstlerin und Kuratorin tätig. So war ihre Installation „Repeat Yourself“ 2012 im Arsenale auf der Architektur Biennale Venedig und 2013 als Einzelausstellung im Architekturzentrum Wien und an der Columbia University, New York, zu sehen. In ihren Arbeiten verschränken sich Forschung und Vermittlung gegenseitig, ergänzen und bereichern sich.

Der Jury fiel der Punkt der Kollaboration und der Teamarbeit sehr angenehm auf. Die Studierenden des Projektseminars hatten die Möglichkeit, sich ganz konkret mit individuellen Beiträgen einzubringen. Die konzeptionelle und inhaltliche Arbeit zwischen Dozent*innen und Studierenden wurde hier tatsächlich einmal auf Augenhöhe betrieben. Und wie gut das Ergebnis einer solchen Konstellation sein kann, das zeigt sich ja hier. 

Weizman und ihr Team haben uns mit ihrem historisch-kritischen aber auch empirisch-emotionalen Zugang zu diesem wichtigen Thema überzeugt. Dieses Thema – das „Nachleben“ exilierter Architekturen und Architekt*innen – ist aufs Engste auch mit dem Leben und Werk von Hans und Lea Grundig verbunden. Diese Verbindung reicht weit über die geografischen Parallelen hinaus, berührt sie doch auch Fragen der Rezeption, der zeitgemäßen Vermittlung des Problemfeldes „Kunst/Exil – Exilkunst“ sowie der akademischen Erforschung und Aufbereitung schwieriger und unbequemer Themen.

Dieser Herausforderung haben sich Weizman und ihr Team auf vorbildliche Weise gestellt. Mehr noch: Sie haben nicht nur historische Grundlagenforschung betrieben, sondern auch Vermittlungsformen ausprobiert, die in die Zukunft weisen.

Weizman und ihr Team erweitern didaktisch aber auch methodologisch den wissenschaftlichen Diskurs, indem sie auf einer Mikroebene einzelnen Schicksalen, einzelnen Bauten, einzelnen Objekten größeren Platz einräumen. Kollektive Schicksale werden somit auch auf einer individuellen Ebene fassbarer. 

Auf der Makroebene koppelt das Projekt die Einzelschicksale an den zeithistorischen und sozialen Hintergrund und bindet sie in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Und es leistet eine beachtliche Vernetzungsarbeit auf internationalem Niveau und kann somit auch als vorbildhaft in seiner Nachhaltigkeit gelten, denn: 

Das Ausstellungsprojekt war im Juli und Oktober 2014 in Weimar zu sehen und im Mai 2015 im Max-Liebling-Haus in Tel Aviv – wieder eine Verbindung zu Lea Grundig! – dem Liebling-Haus, also an einem Ort, der selber ein Beispiel für das „Zweite Leben“ von Exilarchitektur darstellt und ab 2017 das „Kompetenzzentrum Weiße Stadt“ beherbergen wird.

Mittlerweile, so sagte mir Ines Weizman, sind nach der Ausstellung in Tel Aviv zu den neun ursprünglichen Filmen fünf weitere hinzugekommen. Eine institutionelle Verstetigung erreichte das Projekt mit der Gründung des „Centre for Documentary Architecture“ an der Bauhaus-Universität Weimar. Dieses untersucht Architektur mit besonderem Hinblick auf seine dokumentarischen Qualitäten. Wir können also alle miteinander guter Dinge sein, dass wir noch viel Gutes von Ihrem tollen Projekt, liebe Frau Weizman, hören werden. 

Ein Mitschnitt der Laudatio findet sich online unter www.rosalux.de/mediathek/media/element/632

Olga Jitlina: „Russia, The Land of Opportunity – migrant labor board game“ u. a.

Laudatio: Eckhart Gillen. Berlinische Galerie, 26. November 2015

In der Ausschreibung für den Hans-und-Lea-Grundig-Preis 2015 waren bei den künstlerischen Arbeiten aktuelle Beiträge für eine ‚diasporistische’ Kunst gefragt. Der amerikanisch-jüdische Künstler R.B.Kitaj schrieb 1988 in seinem Diasporistischen Manifest: „Ein Diasporist lebt und malt in zwei oder mehr Gesellschaften zugleich». Diasporistische Kunst „ist von Grund auf widersprüchlich, sie ist internationalistisch und partikularistisch zugleich. Sie kann […] eine ziemliche Blasphemie gegen die Logik der vorherrschenden Kunstlehre [sein], ketzerischer Einspruch ist ihr tägliches Lebenselixier.“ 

Die Jury suchte nach einer Kunst als Widerspruch, Widerstand, mit der Thematisierung von Migration, Flucht und Exil, nach Künstlerinnen und Künstlern, die in einer oder mehr Gesellschaften zugleich leben und Kunst wagen, die politisch grundiert ist.

Auf Olga Jitlina trifft dieser künstlerische Diasporismus im Wortsinn zu. Sie steht daher auch, wie wir sehen werden, mit ihren Projekten in der würdigen Nachfolge von Hans und Lea Grundig, die als Kommunisten mit ihrer Kunstpraxis für soziale Gerechtigkeit einstanden. Geboren im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, gehört Olga Jitlina zur postutopischen, postkommunistischen, gründlich desillusionierten Generation russischer Künstler, die nach dem Chaos der sich Anfang der 1990er Jahre auflösenden Sowjetunion in der Phase einer relativen Stabilisierung der anarchischen Privatisierungswelle von Staatsfirmen unter Jelzins Nachfolger Putin 2005 ein Studium der Philologie an dem St. Petersburger Institut für Judaistische Studien und 2007 ein Studium der Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Repin-Akademie der Bildenden Künste, St. Petersburg, abschloss. 

Mit dem Doppelstudium schuf sie sich eine gute theoretische Basis für ihre künstlerischen Praktiken, die alle performativen Möglichkeiten von Konzept- und Aktionskunst verbinden mit Ausstellungen, Konferenzen, Publikationen, Demonstrationen. Sie ist Video- und Performance-Künstlerin, Kunsthistorikerin, Kritikerin, Autorin, Herausgeberin, Kuratorin… Ihre Arbeit ist grundsätzlich interdisziplinär und erfordert daher Teamwork.

Noch während ihres Studiums suchte Olga Jitlina die Öffentlichkeit und fand eine Gruppe gleichgesinnter Künstler, Karikaturisten, Zeichner, Schriftsteller, Musiker und Philosophen, mit denen sie ihre multimedialen, interdisziplinären Projekte entwickelte.

Mit Kollegen, darunter Menschenrechtler wie Andrei Yakimov, Grafik- und Spieledesigner und Zeichner, hat sie die Idee und das Konzept eines Brettspiels mit Figuren, die sich je nach den gewürfelten Punkten bewegen, entwickelt:

„Russia, The Land of Opportunity – migrant labor board game“.

Die Teilnehmer erleben auf quasi spielerische, unterhaltsame Art und Weise das harte Los von Einwanderern aus dem postsowjetischen Raum im heutigen Russland und werden ganz real in die Lage der Arbeitsmigranten, die aus den zentralasiatischen und kaukasischen Republiken nach Russland auf der Suche nach Arbeit kommen, versetzt. Schauplatz des Spiels ist Sankt Petersburg. Im Laufe des Spiels verstricken sie sich unaufhaltsam in das Labyrinth des undurchschaubaren Regelwerks der russischen Gesetze. Die Spieler erleben, wie diese Migranten getäuscht und diskriminiert werden. Nichts haben die Künstlerin und ihre Mitstreiter dabei erfunden. Das Spiel kann daher als ein historisches Dokument betrachtet werden. Die Spielfiguren, die Situationen, in die sie geraten, die Höhe der Geld- und Gefängnisstrafen sind ganz real. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, mit der Realität ist kein Zufall. Wir erfahren, dass jedes Jahr tausende von nichtrussischen Arbeitssuchenden diesem im Brettspiel abgebildeten System zum Opfer fallen.

Mit Andrei Yakimov vom Memorial Anti-Discrimination Center in St. Petersburg hat sie z.B. im Dezember 2011 die schockierenden Tatsachen, die das Spiel „The Land of Opportunity“ offenbart, öffentlich im Cafe-Club Artek diskutiert. Dazu zeigte sie Filme der Factory of Found Clothes (Natalya Pershina-Yakimanskaya aka Gluklya and Olga Egorova aka Tsaplya), „Utopian Unemployment Union No. 1“ and „Utopian Unemployment Union No. 3“, in denen Tänzer und Arbeitsmigranten auftreten.  

Im Gegensatz zu den verwandten Ideen der Fluxus-Bewegung, der Aktions- und Happeningkünstler, wie Joseph Beuys, Bazon Brock und Vostell, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland und Westberlin durch Aktion, Partizipation und Performance das falsche Bewusstsein ihres Publikum aufklären wollten, tritt Olga Jitlina nicht als die autoritative Künstlerin bzw. Animateurin vor ihrem Publikum auf, entwickelt keine Partituren, Handlungsanweisungen, verteilt keine Programmzettel,  sondern arbeitet mit den sogenannten „Laien“, den ArbeitsmigrantInnen auf gleicher Augenhöhe, betrachtet sie als ihre Partner und Künstlerkollegen. 

Ein gutes Beispiel dafür ist der Videofilm „The Bronze Horseman“ (20. August 2014). Wir sehen eine Brigade von Reinigungskräften, die als Arbeitsmigranten aus den nichtrussischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion freudlos und ernst den Platz um den „Ehernen Reiter“ in St. Petersburg von Abfällen säubern. Plötzlich, aus einer Laune heraus, oder aber auch verabredet, lassen sie ihre Besen fallen, brechen in schallendes und befreiendes Gelächter aus, fangen an zu tanzen und machen den Schauplatz ihrer demütigenden Arbeit zum Ort kollektiver Selbstvergewisserung und Lebensfreude. Auch die Passanten und Touristen werden davon erfasst und lassen sich mit den Arbeiterinnen fotografieren. Lachen und Tanzen verbindet, ist Ausdruck von Lebensfreude und bringt wildfremde Menschen in Kontakt zueinander.

Seit 2014 sind Olga Jitlina und Igor Kravchuk Herausgeber, Redakteure und Autoren einer Zeitschrift, die sie gemeinsam mit Arbeitsmigranten und Künstlern publizieren: „Nasreddin in Russia“ nennt sich diese satirische Publikation, die nichtkommerziell verbreitet wird.  

Hodja Nasreddin ist der Name einer legendären Figur, mit der sich humoristische   Geschichten im gesamten türkisch-islamisch beeinflussten Raum vom Balkan bis zu den Turkvölkern Zentralasiens verbinden. Er soll im 13./14. Jahrhundert im südwestlichen Anatolien gelebt haben. Auch in Sowjetzeiten war er eine aus Anektoden, Büchern und Filmen vertraute populäre Figur. Vergleichbar mit einem Till Eulenspiegel in Deutschland, verkörpert er eine bunte Mischung aus Volksweisheit, Schlauheit und ist nie um eine Antwort verlegen.  

In den Comics der Zeichnerin Anna Tereshkina trittNasreddin mit Turban, blau-weiß gestreiften Kaftan und roten Hosen alsselbstbewusster, gewitzter und fintenreicher Schelm auf, der als Arbeitsmigrant mit Turban aus den kaukasischen und zentralasiatischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion mit islamischen Hintergrund seinen Leidensgenossen mit klugen Ratschlägen aus der Patsche hilft, schlagfertig mit der Polizei umzugehen versteht und Auswege aus dem Labyrinth bürokratischer Schikanen und krimineller Ausbeutung weist. 

Z.B. „Polizei: Zahlen Sie 5.000 Rubel oder verbringen Sie die Nacht auf dem Poizeirevier. 

Nasreddin: Was für ein preiswertes Zimmer! Ist das der Mietpreis für einen Monat?“

Olga Jitlina, die Arbeitsmigranten und ihr Team diskutieren in der Zeitschrift, inspiriert von ihrer Kunstfigur, nach Möglichkeiten von gewaltlosen, zivilen Widerstand. Sie schreiben, wir brauchen viele Nasreddins in Russland heute. Dieser sich naiv stellende, weise Narr wird zur Symbolfigur des zerfallenen Sowjetreichs, dessen nichtrussischen Völkern jetzt die Großrussen mit rassistischen Ressentiments  entgegen treten. Sie fragen sich, kann das Lachen, das Nasreddin auslöst, zumindest zeitweise, vergessen lassen, was sie voneinander trennt? Können Reiche und Arme, Polizisten und Akademiker über die gleichen Witze lachen? Oder ist der Humor gebunden an Herkunft, Erziehung, Einkommen und Sprache? Kann Humor rassistische Vorurteile abwehren? Zusätzlich haben sie noch eine Schwester von Nasreddin erfunden und sich ausgedacht, wie die beiden reagieren würden auf die typischen Situationen, in die Arbeitsmigranten so häufig geraten. 

Inzwischen sind seit 2014 drei Nummern erschienen. Die erste beschäftigte sich mit dem Thema Wohnen, die zweite mit Massenmedien und Zungenbrechern.  

In der dritten Ausgabe („Your Work or Your Life?“) denken Olga Jitlina und ihre Kollegen darüber nach, was Migranten und Künstler gemeinsam haben. Entgegen der Konvention, dass die einen physische Arbeit leisten, also ihren wahren Bedürfnissen entfremdet, während die anderen ‚kreativ’ sind, gibt es doch viele Parallelen im Arbeitsalltag auf beiden Seiten. Wir gehen ganz selbstverständlich  davon aus, dass diejenigen, die hart, und in der Regel länger als die Arbeitsvorschriften erlauben, arbeiten müssen, dazu noch von der Polizei und rassistischen Angriffen bedroht sind, keine Zeit und Kraft haben, Kunst zu machen. Diejenigen aber, die von ihrer Kunst leben, seien frei und können sich kreativ entfallen.

Olga Jitlina stellt diese Vorstellung der Aufteilung von physischer und geistiger Arbeit grundsätzlich in Frage. Ist die künstlerische Tätigkeit inzwischen nicht genauso erbarmungslos den Zeitplänen und Zwängen des ökonomischen Wettlaufs unterworfen wie jede andere Form von Fließbandarbeit? Künstler und Arbeitsmigranten verbindet u.a., dass sie keinen bezahlten Urlaub haben, keinen Krankenurlaub und keine Rente. Beide Gruppen greifen nach jeder Arbeit, die sie bekommen können und gehen bis an die Grenze der physischen und psychischen Erschöpfung. Die Selbstausbeutung ist also ein gemeinsames Merkmal. Unser Leben ist unsere Arbeit, unsere Arbeit ist unser Leben. Die Arbeit bestimmt jeden Winkel des Alltags, Freundschaften, Liebe bis in den Schlaf. Dafür ist künstlerische Arbeit motiviert durch den Glauben an eine bessere Zukunft, die damit beginnt, eine wahrhafte, realistische Sprache zu entwickeln. 

Nicht zuletzt müssen Künstler Jobs in der realen Arbeitswelt übernehmen, um sich über Wasser zu halten. So bekommen sie aber auch unmittelbaren Einblick in die Arbeitsverhältnisse. Bereits 1959 schlug das von der SED geplante Prinzip der Erziehung des Künstlers durch die Arbeiterklasse auf der Erste Bitterfelder Konferenz 1959 in der DDR in sein Gegenteil um: Die Künstler solidarisieren sich mit den Arbeitern und ihrem Widerstand gegen schlechte Arbeitsbedingungen. 

Wenn Künstler und Intellektuelle sich als Teil eines weltweiten Prekariats verstehen, ist das keine schlechte Voraussetzung für eine Zusammenarbeit. Dafür bringt die Ausgabe der Zeitschrift viele Beispiele, wie das „Uzbek LOL“ im Internet. Ohne ihre Arbeitsplätze zu verlassen, benutzen Arbeiter ihre Werkzeuge als Musikinstrumente. Weltweit beobachtet Olga Jetlina neue Transformationen von physischer in kreative Arbeit und neue Kunstformen, die unabhängig vom offiziellen Kunstsystem funktionieren, in dem das Kunstwerk nicht mehr danach bewertet wird, was es bedeutet, sondern nur noch danach, was es kostet. 

Die Erste Industrie Biennale (Industrial Biennal) zeitgenössischer Kunst in Jekaterinburg 2010 widmete sich z.B. dem Thema Stoßarbeiter/Bestarbeiter (Cosmin Costinas, Ekaterina Degot und David Riff).

Im August 2014 realisierte Olga Jitlina „Hodja Nasreddin Contest on Mobile Discoteque“ in Zusammenarbeit mit dem spanischen Künstler Jon Irigoyen und der Unterstützung der „Cologne Academy of Arts of the World“ sowie dem öffentlichen Begleitprogramm der Manifesta 10. 

Mit der von Anna Tereshkina bemalten mobilen Diskothek, die zwischen Lautsprechern die Figur des Nasreddin auf einem Flugzeug reitend und das Motto „Wenn Humor die einzige Waffe ist“ auf dem Dach eines PKW zeigen, geht es auf den Markt der Migranten nicht weit vom Nevskij Prospekt. Hier wird, angeregt von den lateinamerikanischen, kaukasischen und zentralasiatischen Rhythmen der  mobilen Disko, spontan und improvisiert ein Fest gefeiert, getanzt, gelacht, posiert. Die fliegenden Händler, die von den russischen Massenmedien als eine gesichtslose, düstere und kriminelle Masse gezeichnet wird, bekommen plötzlich ein fröhliches, heiteres Gesicht, sind sympathisch und gewinnend. An verschiedenen Plätzen, Märkten und Cafés in St. Petersburg organisierte Olga Jitlina im Sommer 2014 ihre Witze-Wettkämpfe/competitions of joke unter den in der Stadt lebenden Migranten. Die Gewinner bekamen Preise. Ein Film und ein Buch mit Illustrationen von Anna Tereshkin, ist in Vorbereitung (Herbst 2014??)

Ihr „Requiem for a Creative Class“ (10. November 2014) ist ein wunderbarer ironischer Abgesang auf die kreative Klasse, im russischen Slang creacle genannt. In einem schwimmenden Sarg (er war in der Ausstellung „Tales of 2 Cities“ im Jüdischen Museum Wien Anfang 2015 als Kunstobjekt zu sehen), einem „lonely floating creacle“ (Victor Lubimtzev) an der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen, sitzt ein Musiker in exotischer Tracht und streicht die Saiten seines Instrumentes, begleitet von einem sarkastischen, kulturkritischen Text, gesprochen  von Dmitry Golynko am Ufer.

Am 2. Dezember wird in der Kampnagel Fabrik in Hamburg ihre Asyloper „Translation“ uraufgeführt. Asylbewerberinnen und Bewerber zusammen mit Opernsängerinnen und Sänger werden die Asylanträge von Flüchtlingen als Arien singen. Der Antragstext ist für die Flüchtlinge von existentieller Bedeutung und steht in Nichts den großen Tragödien, Illusionen und Hoffnungen nach, die sich in den Opernlibrettos der europäischen Musikliteratur niedergeschlagen haben.  

Olga Jitlina inszeniert sich nicht als Großkünstlerin, um den Kunstmarkt zu beeindrucken. Sie nimmt sich selbst zurück, arbeitet im Kollektiv mit Kollegen und Migranten, ist Ideengeberin, Gestalterin und Produzentin in einer Person. Ihr Sinn für Humor, ihre befreiende Botschaft, mit der sie den öffentlichen Raum zurück erobert für das Lachen, Tanzen und die angstfreie Kommunikation aller Städtebewohner, ihre Beobachtungsgabe, ihr analytischer Scharfsinn, ihre Empathie holen diejenigen ins Kunstgeschehen zurück, die als angeblich Nicht-Kreative, Nichtintellektuelle aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen sind.  

Olga Jitlinas Arbeit wird weltweit beachtet und gezeigt, z.B. in Finnland, Schweden, Polen, der Tschechischen Republik, Holland, Österreich und Italien.

In Deutschland ist sie noch viel zu wenig bekannt. Vielleicht hilft der Hans-und-Lea- Grundig-Preis, dass sie auch in Deutschland ihr Publikum findet und fasziniert. 

Ein Mitschnitt der Laudatio findet sich online unter www.rosalux.de/mediathek/media/element/634