Hans-und-Lea-Grundig-Preisträger 2017

Der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgeschriebene Hans-und-Lea-Grundig-Preis 2017 wird an die syrische Regisseurin Afraa Batous, an die Berliner Künstlerin Heike Ruschmeyer, an das Jüdische Museum Wien sowie an die Kunsthistorikerin Rachel Stern (New York City) vergeben. So entschied die Jury mehrheitlich nach intensiver Diskussion in zwei Sitzungen am 13. Mai 2017 und 1. Juli 2017.

Lobende Erwähnung durch die Jury finden die Einreichungen im Bereich Bildende Kunst von Emmanuel Bornstein, Hosam Katan, Ilana Salama Ortar, Elianna Renner und Selma Selman. Das Werk von Wolfram P. Kastner wird von der Jury als ein mutiges Beispiel, Verdrängungen der Geschichte durch Tabubrüche zu thematisieren und so gesellschaftliche Debatten zu initiieren, anerkennend hervorgehoben.

Die Hans-und-Lea-Grundig-Preise 2017 werden im Dezember 2017 in Dresden vergeben. Nähere Informationen folgen.

Afraa Batous — Preisträgerin im Bereich «Bildende Kunst» für den Film Skin (2015, 85 Min.)
Skin ist ein über mehrere Jahre entstandener Dokumentarfilm von Afraa Batous, der in der Zeit kurz vor dem Krieg in Syrien seinen Ausgang nimmt, als die junge Filmemacherin und ihre Freunde in Aleppo noch als Theaterschauspieler arbeiteten. Es ist der zweite Dokumentarfilm und zugleich der erster lange Film von Afraa Batous. Am Beispiel ihrer beiden Freunde aus der Theatergruppe erzählt sie von den Hoffnungen und Träumen einer jungen syrischen Generation, dem kriegsbedingten Scheitern der Zukunftspläne in der Heimat, dem Aufbruch ins Ungewisse und dem Leben im Wartestand des Exils, das wohl Freiraum für Reflexion und Eigeninitiative bietet, jedoch keine Zukunftsperspektive.

Der Film setzt ein mit einem an Heiner Müller gerichteten inneren Monolog und arbeitet mit dem Montageprinzip. Medial verfügbares Dokumentarmaterial aus unterschiedlichen Quellen sowie eigene filmische Beobachtungen im sich verändernden Außenraum werden kurz geschlossen mit intimen Sequenzen aus dem Alltag der beiden Freunde. Die beiden Protagonisten des Films, Hussein, der Brandredner und Souhbi, der eher unpolitische, trinkfreudige Künstler sowie Afraa selbst, die zurückhaltend verbindende und zugleich katalytische Figur, hatten in Aleppo die Aufführung von Heiner Müllers Hamletmaschine vorbereitet. Doch der Krieg macht ihre Pläne zunichte.
Die Hamletmaschine, ein lediglich neunseitiges Theaterstück, war einst ein Angebot an die intellektuelle Linke der DDR, selbstbewusst und kritisch die eigene Rolle zu reflektieren. Die Introspektion und zugleich das Position-Beziehen nach Außen, die der legendäre Text offeriert und einfordert, ist Stichwortgeber für den Film und findet seinen Widerhall in den Dialogen und Kommentaren der Protagonisten. Symbolische Brechungen erfährt dies etwa in den Versuchen, im Exil ein Stück über eine Flüchtlingsfamilie zu inszenieren und ein Puppentheater zu basteln. Der Zuschauerraum bleibt leer; die Stoffpuppe ist versehrt und stumm.

Neben zarten, anrührenden Momenten finden sich aber auch solche der Irritation. Etwa wenn in einem Demonstrationszug von noch friedlichen, aber aus westlicher Sicht unkalkulierbar bedrohlich wirkenden männlichen Massen, auch Banner des religiösen Fanatismus zu erkennen sind, oder wenn in einer kriegszerstörten Straße einer der im Staub vor Trümmern hockenden Männer Blut für Blut fordert. Die in jeder Hinsicht katastrophalen Verwüstungen können die drei jungen Theatermacher nicht wirklich mit dem Weggang aus der Heimat hinter sich lassen. Der Krieg ist auch im Exil präsent, hat die äußerlich friedliche neue Alltagswelt kontaminiert.

Batous arbeitet mit ästhetischen Mitteln, die die äußeren wie inneren Konflikte in ihrer verstörenden Vielschichtigkeit zeigen, die Frage nach dem richtigen Handeln umkreisen und nicht in eindeutigen Antworten auflösen. Die Kameraführung, die Verschränkung der Vor- und Rückblenden und Schnitte sind präzise. Der Einsatz von Unschärfe und die Handlungs- und Wortarmut etlicher Sequenzen erscheint überzeugend motiviert. Die Protagonisten sind keine Helden. Ihr Reden und Tun mit den Selbstzweifeln und Hader, der hilflosen Wut und handlungsarmen Leerläufen berührt aber gerade dadurch so stark und bringt einem die Katastrophe des Krieges in Syrien näher als Nachrichtenmeldungen dies vermögen. Ein Film, der unter die Haut geht.

Die Filmmacherin lebt und arbeitet inzwischen in Deutschland.
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Heike Ruschmeyer — Preisträgerin im Bereich «Bildende Kunst» für ihr Gesamtwerk
Der Hans-und-Lea-Grundig-Preis 2017 wird an die Berliner Malerin Heike Ruschmeyer vergeben, die seit Jahrzehnten mit strikter Konsequenz das Thema Tod durch Gewalt, Missbrauch und mörderischen Rassismus bearbeitet. Sie versteht ihre Malerei als Forschungsarbeit und Ort des politischen Handelns. Dabei nutzt sie Fotos aus der Gerichtsmedizin, aus Zeitungen und Archiven.

Von früh an misstraute sie der Oberfläche des bürgerlichen Alltags und spürte seine Abgründe malerisch auf. «Heike Ruschmeyer ist eine Meisterin gemalter Angstzustände und Horrorszenarien des Alltags.» (Matthias Reichelt) «Mit ihren Totenbildern nimmt sie einen Faden auf, den die Geschichtsschreibung der Fotografie von Beginn an gewirkt hat: Jede fotografische Aufnahme macht etwas sichtbar, was nicht mehr ist, und stellt es nach rein mechanischem Maßgabe dar. Gerade in ihren Pioniertagen wurde der Fotografie deswegen immer wieder unterstellt, sie würde der Welt eigentliche eine Totenmaske abnehmen. […| Mit malerischem Gestus haucht sie den stillgestellten Leibern dann den Atem des künstlerischen Ausdrucks ein, Pinsel und Palette werden auf diese Weise zu Werkzeugen einer symbolischen Wiederbelebung.» (Michael Kohler)

Ruschmeyers Empathie mit den Opfern, den Marginalisierten und Vergessenen ist von höchster Malkultur getragen.

Jüdisches Museum Wien — Preisträger im Bereich «Kunstvermittlung» für die Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 (2016)
Die Ausstellung und Publikation zu jüdischen Künstlerinnen in Wien bis 1938 zeigt einerseits die Bedingungen, unter denen es den jüdischen Künstlerinnen zwischen ca. 1860 und 1938 in Wien gelang, sich Ausbildungs‐ und Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen und ihren selbstgewählten Beruf professionell auszuüben. Andererseits werden mit einer Fülle von Werken und anhand von 44 Biografien die künstlerischen und gesellschaftlichen Leistungen dieser Künstlerinnen dokumentiert und gezeigt, welch erhebliche Rolle diese zumeist vergessenen Protagonistinnen im Kunstbetrieb spielten.
Das eingereichte Projekt würdigt erstmals qualitativ und quantitativ die Rolle, welche jüdische Künstlerinnen in der Wiener Kunstwelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielten. Die Ausstellung gestattet sowohl einen Überblick über die großen Leitlinien zu gewinnen, als auch das intensive Studium der Werke. Der zweisprachige, über 200-Seiten starke und mit zahlreichen Abbildungen versehene Katalog gestattet, die aktuellsten Forschungen zum Thema jüdische Künstlerinnen in einen größeren Kontext zu setzen.
Das Projekt hat den großen Verdienst, nicht nur einen wichtigen Teil der österreichischen Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neu entdeckt zu haben, sondern auch, eindringlich den großen Verlust zu dokumentieren, welchen Österreich und Europa durch die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in der Kunst hinterlassen hat.
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Rachel Stern — Preisträgerin im Bereich «Kunstgeschichte» für das Ausstellungs- und Publikationsprojekt ‹Leben ist Glühn› — Der Expressionist Fritz Ascher (2016)
Sterns eingereichte Arbeit stellt nicht nur die erste wissenschaftliche Kontextualisierung des aus Berlin stammenden und von den Nationalsozialisten verfolgten und verfehmten Expressionisten Fritz Ascher (1893–1970) dar, sondern würdigt diesen vergessenen Vertreter der Moderne in einer umfangreichen Wanderausstellung, die bislang in Osnabrück und Chemnitz zu sehen war. Ascher studierte, hochtalentiert, auf Empfehlung von Max Liebermann in Königsberg, Berlin und München und war mit der deutschen Avantgarde persönlich vertraut und eng verbunden. Nach kurzer Haft, innerer Emigration während des Nationalsozialismus blieb Ascher nach 1945 künstlerisch aktiv und wandte sich nunmehr rätselhaften und anspielungsreichen Landschaftsbildern zu. Rachel Stern erforscht seit mehreren Jahrzehnten Leben und Werk von Ascher und legt mit der 300 Seiten starken, deutsch-englischen Publikation eine wichtige Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit der deutschen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und dem Schicksal der «vergessenen Generation» von Künstlern der Avantgarde im Speziellen. Buch und Ausstellung leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit.
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