Jüdisches Museum Wien: Ausstellung „Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938“

Laudatio: Ines Weizman. Albertinum/Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 8. Dezember 2017

Diese Ausstellung, die aus einer mehrjährigen und wirklich bemerkenswerten Forschungsarbeit entstanden ist, behandelt zum einen die Bedingungen, unter denen es jüdischen Künstlerinnen zwischen etwa 1860 und 1938 in Wien gelang, sich Ausbildungs‐ und Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen und ihren selbstgewählten Beruf professionell auszuüben. Zum anderen versucht sie, anhand von Werken und detailliert recherchierten Biografien zu vermitteln, was diese Künstlerinnen auch tatsächlich erreicht haben und welch erhebliche (heute allerdings zumeist unbekannte) Rolle sie zu ihrer Zeit im Kunstbetrieb spielten. 

Das Projekt hat den großen Verdienst, nicht nur einen wichtigen Teil der österreichischen Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neu entdeckt zu haben, sondern auch, eindringlich den großen Verlust zu dokumentieren, welcher in Österreich, Deutschland und Europa durch die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in der Kunst entstanden ist. Das Projekt würdigt erstmals qualitativ und quantitativ die Rolle jüdischer Künstlerinnen in der Wiener Kunstwelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ermöglicht einen Überblick über die großen künstlerischen Leitlinien und Einflüsse wie auch das intensive Studium der Werke. Kuratiert wurde die Ausstellung von Frau Andrea Winklbauer und Frau Dr. Sabine Fellner. Conny Cossa und Julia Nuler haben die Ausstellung gestaltet.

Andrea Winklbauer stammt aus Wien, studierte Kunstgeschichte und ist als Kunst-, Film- und Kulturhistorikerin sowie Kunstkritikerin tätig. 2008 wurde sie Kuratorin im Jüdischen Museum Wien, wo sie bereits seit 1992 an Ausstellungen mitwirkte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den wechselseitigen Einflüssen von Kunst, Fotografie und Film sowie auf der österreichischen Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien um 1900 und der Zwischenkriegszeit sowie Exilforschung. Sie hat zu diesen Themen zahlreiche Publikationen über Kunst, Kulturgeschichte, Fotografie und Film herausgegeben. Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Kunst von Frauen. 1999 hat sie an „Jahrhundert der Frauen“, eine der ersten Ausstellungen zu diesem Thema in Wien im Kunstforum der Bank Austria mitgearbeitet. 2012 kuratierte sie zusammen mit Iris Meder für das Jüdischen Museum Wien die Ausstellung „Vienna’s Shooting Girls. Jüdische Fotografinnen aus Wien in der Zwischenkriegszeit“.  Ihr aktuell gezeigtes Ausstellungsprojekt behandelt ebenfalls historische Fotografie. Hier geht es um Fotografien von Ze’ev Aleksandrowicz zwischen 1932 und 1936 in Palästina vor der Staatsgründung Israels. 

Sabine Fellner studierte Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Wien und an der Sorbonne in Paris. Zwischen 1989-1993 war sie als Kuratorin im Österreichischen Tabakmuseum tätig und promovierte in dieser Zeit. Seit 1994 beschäftigt sie sich als Kuratorin mit gesellschaftspolitisch aktuellen Fragen, , wie 2012 in der Ausstellung Der nackte Mann, oder 2015 in der Ausstellung Rabenmütter, die beide im LENTOS Kunstmuseum Linz zu sehen waren. Aktuell ist von ihr sowohl die Ausstellung Sterne. Kosmische Kunst von 1900 bis heute im LENTOS Kunstmuseum Linz zu sehen, die sie gemeinsam mit Elisabeth Nowak Thaller kuratiert hat, als auch die Ausstellung Die Kraft des Alters im Museum Belvedere in Wien. 2018 wird sie eine Ausstellung für das Austrian Cultural Forum in New York über zeitgenössische österreichische Künstlerinnen kuratieren. Sie publizierte zahlreiche Aufsätze und Kataloge zum Thema Alltagskultur und zur österreichischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und war damit wohl eine ideale Partnerin für eine Zusammenarbeit mit Andrea Winklbauer am Ausstellungsprojekt über jüdische Künstlerinnen in Wien.

Für die heute mit dem Hans und Lea Grundig Preis ausgezeichnete Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 war es den Kuratorinnen ein besonderes Anliegen, zu vermitteln, wie schwierig es für Frauen dieser Zeit war, den Beruf der Künstlerin zu ergreifen und auszuüben. Dabei waren sie selbst überrascht zu entdecken, dass es in Wien tatsächlich eine weibliche Avantgarde gab. Da aber viele aus assimilierten jüdischen Familien stammten, wurden diese jüdischen Vertreterinnen aufgrund der Verfolgung ab 1938 in Österreich aus der Kunstgeschichte gestrichen. In ihrem, über 200 Seiten starken und mit zahlreichen Abbildungen versehenen Katalog beschreiben sie, wie Frauen von der männlich dominierten Kunsttheorie Themen aus der Natur und der häuslichen Sphäre zugeschrieben wurden. Dabei interessierten sich viele der engagierten Künstlerinnen explizit für soziale und politische Themen ihrer Zeit wie die Lebensbedingungen der Unterschicht, Prostitution, Krieg, und den aufkommenden Faschismus.  Die Wissenschaftlerinnen versuchten in mühsamer Recherchearbeit, die mehr als 40 Lebensläufe von Künstlerinnen zu rekonstruieren. Einige Frauen, denen die Flucht ins Exil gelang, konnten sie in der Nachkriegszeit wiederfinden, doch nur wenige von ihnen waren weiterhin künstlerisch tätig. Von vielen verlor sich in schmerzlicher Weise die Spur.

Ein weiteres zentrales Thema der Ausstellung ist der mit der Vertreibung einhergehende Verlust ganzer œuvres. Hier bewegt die Geschichte der Malerin Bettina Ehrlich‐Bauer, die den Großteil der Arbeiten ihres Ehemannes, des Bildhauers Georg Ehrlich, ins englische Exil übersiedelte, jedoch ihre eigenen spektakulären Werke in Wien zurückließ. Ein Teil dieser, seit 1945 verschollenen Gemälde war nur durch zeitgenössische Fotografien in schwarz/ weiß überliefert. Um die Eindringlichkeit des Motivs, aber auch den wohl endgültigen Verlust des Werkes hervorzuheben, haben die Ausstellungsmacherinnen eine Farbrekonstruktion von einem Selbstportrait der Künstlerin von 1928 anfertigen lassen. Das eindringliche Bild wurde als Titelbild der Ausstellung gewählt und verweist nicht nur auf die akribische Forschungsarbeit, die einer Art Spurensicherung gleicht, sondern zeigt auch, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte und deren Vermittlung immer wieder neue kreative Gesten der Aneignung und Vergegenwärtigung erfordert. Denn schließlich charakterisiert sich doch eine große Ausstellung durch ihre Fähigkeit, mit der Gegenwart sprechen zu können. Das heißt gerade im derzeitigen politischen Klima, die Herausforderungen unserer Gegenwart, komplexe zeithistorische Umstände und Kontexte zu verstehen und zu dokumentieren, anzunehmen und jene Fäden wiederzufinden, die unsere fragilen zeitgenössischen Kulturen mit Elementen der Vergangenheit verbinden. 

Diese Ausstellung schafft jene unglaubliche zeitliche Montage, eine Kombination von zeitlichen Epochen, die so harsch und grausam voneinander getrennt wurden, in einem konstruktivistischen Sinne, wieder übereinanderzulegen. Denn die Kuratorinnen verstehen es, der Vergangenheit mit den intellektuellen Instrumenten und der Sensibilität unserer Zeit zu begegnen. Die Ausstellung entstand gewiss auch nicht allein aus einem, dem Fach verpflichteten Sinn für eine Komplementierung einer noch zu wenig untersuchten Fragestellung, sondern reflektiert ja auch die Herausforderungen unserer Gegenwart, in der Frauen noch immer um ihre Gleichberechtigung kämpfen müssen, in der wir uns alle den Problemen, die sich aus der Zuschreibung und Reproduktion von Geschlechterverhältnissen ergeben, widmen müssen. Ja nicht zuletzt auch in einer Zeit des hashtags me too, in der wir immer mehr versuchen müssen, die Stille und das Wegsehen zu brechen. Dies ist nicht nur ein politischer Kampf, sondern auch ein Kampf, in der sich jede und jeder – nicht nur Kulturschaffende – darüber Gedanken machen muss, wie Sie die ihr zugänglichen Medien und die ihr naheliegende Expertise oder Disziplin nutzen kann, um eine Position zu artikulieren und letztlich mit Kompetenz und Engagement ganz neue Lesarten und Überzeugungen – ja neues Wissen zu produzieren; nicht zuletzt, um die vorherrschenden Machtstrukturen zu unterwandern und zu verändern. Gesellschaftskritik zeigt sich hier als eine Praxis, die sich auf einem Spektrum von Möglichkeiten zwischen Konsens auf der einen Seite und Aktivismus auf der anderen bewegt. 

Der Hans und Lea Grundig Preis möchte Arbeiten, die sich mit dieser radikalen Neugestaltung der ästhetischen Gegebenheiten auseinandersetzen, auszeichnen. Hier ist es eine Ausstellung, die versucht, den Anspruch aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu vermitteln, um damit das Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, oder zwischen den Wörtern und den Körpern zu verändern. Dabei waren die Protagonistinnen, die in dieser Forschungsarbeit untersucht wurden, schwierig zu rekonstruieren, denn ihre Konturen – waren sie einmal nachgezeichnet – verblassten allzu leicht wieder in der Unschärfe einer kaum rekonstruierbaren Alltagswelt, oder einem nicht mehr nachvollziehbaren Verständnis der damaligen Gefahrenlage und Risiken bei Äußerung freier, gesellschaftspolitischer, künstlerischer Gedanken. 

Trotz der Schwierigkeiten, die Lebensläufe der Frauen, aber auch das Leben und den Verbleib der Kunstwerke zu erforschen, schafft es die Ausstellung, die wiedererweckte Selbständigkeit und Emanzipation von Frauen nachzuzeichnen. Sie verweist schließlich auch auf die doppelte Hürde der Unterdrückung der Frauen –  der ihres Judentums, als auch der des Familienpatriarchats innerhalb ihrer Gemeinschaft, die es zu überwinden galt; aber auch auf ihren Kampf um Anerkennung und Unabhängigkeit als Künstlerinnen männlich dominierten Kunstszene und dazu noch als jüdische Künstlerinnen. Doch ihre Modernität lag nicht allein in ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit, sich als Frauen zu behaupten, sondern auch in der Erfahrung der Diaspora und des Exils. Man könnte behaupten, es gibt keine Moderne, die statisch ist. Die Moderne artikuliert sich durch die Bewegung des Autos, des Zuges, des Flugzeugs, den Medien, dem Radio, dem Film und durch die Bewegung der ProtagonistInnen über Grenzen hinweg. In Wien als sogenannten Schmelztiegel der Kulturen kamen alle diese Bewegungen zusammen. Die Künstlerinnen waren unmittelbar Teil dieser Moderne und prägten sie. Und tragischer Weise gehörte auch ihre grausame Umkehrung zu dieser Moderne.

Heute ist es eine besondere Aufgabe für HistorikerInnen und ForscherInnen, die Migrationsgeschichte dieser so harsch unterbrochenen emanzipatorischen Moderne, die auf den vielfältigen Wegen des Exils in die Welt hinausgetragen wurde, zu erfassen und darzustellen. Denn gemeinsam mit ihren Autoren und Treuhändern wurden auch Dokumente und Werke auf international verschlungene Wege gebracht, die oft zu schwierig zu durchschauenden Besitzverhältnissen führten. Die Geschichte der Migration ist somit auch die Geschichte von Objekten, die sich durch Verwahrungsstrukturen, Streitigkeiten und juristischen Auseinandersetzungen und im Spiegel von neuen Forschungsergebnissen und noch unbekannten Werken immer wieder neu positionieren und oftmals auch zu korrigieren sind. Doch wir müssen uns heute gerade in Hinblick auf die derzeitigen großen Ausrufungen der Diktatoren und den geopolitischen Turbulenzen und Tragödien dieser Welt, jener doch so dünnen Fäden der Geschichte bewusst werden, die Menschen über Kontinente und Generationen hinweg flechten.

Die Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 von Andrea Winklbauer und Sabine Fenner hat uns dieses fragile Netzwerk vorgestellt, aber uns auch genug Zugang zu Anknüpfungspunkten ermöglicht, es zu erkunden und zu erweitern und aus den Fäden des Exils neue Fäden der Freundschaft und der Anerkennung zu spinnen. Gerade weil diese so sensibel recherchierte Arbeit tatsächlich die BetrachterInnen packt und auf völlig neue Gedankenwege bringt, hat sich die Jury für dieses Ausstellungsprojekt entschieden. Wir hoffen, dass es als Ausstellung noch an anderen Orten gezeigt werden kann und Sie weiterhin  viel Erfolg, Enthusiasmus und Inspiration finden, um Ihre Forschungsarbeit fortzusetzen und neue Projekte zu erkunden.