Olga Jitlina: „Russia, The Land of Opportunity – migrant labor board game“ u. a.
Laudatio: Eckhart Gillen. Berlinische Galerie, 26. November 2015
In der Ausschreibung für den Hans-und-Lea-Grundig-Preis 2015 waren bei den künstlerischen Arbeiten aktuelle Beiträge für eine ‚diasporistische’ Kunst gefragt. Der amerikanisch-jüdische Künstler R.B.Kitaj schrieb 1988 in seinem Diasporistischen Manifest: „Ein Diasporist lebt und malt in zwei oder mehr Gesellschaften zugleich». Diasporistische Kunst „ist von Grund auf widersprüchlich, sie ist internationalistisch und partikularistisch zugleich. Sie kann […] eine ziemliche Blasphemie gegen die Logik der vorherrschenden Kunstlehre [sein], ketzerischer Einspruch ist ihr tägliches Lebenselixier.“
Die Jury suchte nach einer Kunst als Widerspruch, Widerstand, mit der Thematisierung von Migration, Flucht und Exil, nach Künstlerinnen und Künstlern, die in einer oder mehr Gesellschaften zugleich leben und Kunst wagen, die politisch grundiert ist.
Auf Olga Jitlina trifft dieser künstlerische Diasporismus im Wortsinn zu. Sie steht daher auch, wie wir sehen werden, mit ihren Projekten in der würdigen Nachfolge von Hans und Lea Grundig, die als Kommunisten mit ihrer Kunstpraxis für soziale Gerechtigkeit einstanden. Geboren im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, gehört Olga Jitlina zur postutopischen, postkommunistischen, gründlich desillusionierten Generation russischer Künstler, die nach dem Chaos der sich Anfang der 1990er Jahre auflösenden Sowjetunion in der Phase einer relativen Stabilisierung der anarchischen Privatisierungswelle von Staatsfirmen unter Jelzins Nachfolger Putin 2005 ein Studium der Philologie an dem St. Petersburger Institut für Judaistische Studien und 2007 ein Studium der Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Repin-Akademie der Bildenden Künste, St. Petersburg, abschloss.
Mit dem Doppelstudium schuf sie sich eine gute theoretische Basis für ihre künstlerischen Praktiken, die alle performativen Möglichkeiten von Konzept- und Aktionskunst verbinden mit Ausstellungen, Konferenzen, Publikationen, Demonstrationen. Sie ist Video- und Performance-Künstlerin, Kunsthistorikerin, Kritikerin, Autorin, Herausgeberin, Kuratorin… Ihre Arbeit ist grundsätzlich interdisziplinär und erfordert daher Teamwork.
Noch während ihres Studiums suchte Olga Jitlina die Öffentlichkeit und fand eine Gruppe gleichgesinnter Künstler, Karikaturisten, Zeichner, Schriftsteller, Musiker und Philosophen, mit denen sie ihre multimedialen, interdisziplinären Projekte entwickelte.
Mit Kollegen, darunter Menschenrechtler wie Andrei Yakimov, Grafik- und Spieledesigner und Zeichner, hat sie die Idee und das Konzept eines Brettspiels mit Figuren, die sich je nach den gewürfelten Punkten bewegen, entwickelt:
„Russia, The Land of Opportunity – migrant labor board game“.
Die Teilnehmer erleben auf quasi spielerische, unterhaltsame Art und Weise das harte Los von Einwanderern aus dem postsowjetischen Raum im heutigen Russland und werden ganz real in die Lage der Arbeitsmigranten, die aus den zentralasiatischen und kaukasischen Republiken nach Russland auf der Suche nach Arbeit kommen, versetzt. Schauplatz des Spiels ist Sankt Petersburg. Im Laufe des Spiels verstricken sie sich unaufhaltsam in das Labyrinth des undurchschaubaren Regelwerks der russischen Gesetze. Die Spieler erleben, wie diese Migranten getäuscht und diskriminiert werden. Nichts haben die Künstlerin und ihre Mitstreiter dabei erfunden. Das Spiel kann daher als ein historisches Dokument betrachtet werden. Die Spielfiguren, die Situationen, in die sie geraten, die Höhe der Geld- und Gefängnisstrafen sind ganz real. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, mit der Realität ist kein Zufall. Wir erfahren, dass jedes Jahr tausende von nichtrussischen Arbeitssuchenden diesem im Brettspiel abgebildeten System zum Opfer fallen.
Mit Andrei Yakimov vom Memorial Anti-Discrimination Center in St. Petersburg hat sie z.B. im Dezember 2011 die schockierenden Tatsachen, die das Spiel „The Land of Opportunity“ offenbart, öffentlich im Cafe-Club Artek diskutiert. Dazu zeigte sie Filme der Factory of Found Clothes (Natalya Pershina-Yakimanskaya aka Gluklya and Olga Egorova aka Tsaplya), „Utopian Unemployment Union No. 1“ and „Utopian Unemployment Union No. 3“, in denen Tänzer und Arbeitsmigranten auftreten.
Im Gegensatz zu den verwandten Ideen der Fluxus-Bewegung, der Aktions- und Happeningkünstler, wie Joseph Beuys, Bazon Brock und Vostell, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland und Westberlin durch Aktion, Partizipation und Performance das falsche Bewusstsein ihres Publikum aufklären wollten, tritt Olga Jitlina nicht als die autoritative Künstlerin bzw. Animateurin vor ihrem Publikum auf, entwickelt keine Partituren, Handlungsanweisungen, verteilt keine Programmzettel, sondern arbeitet mit den sogenannten „Laien“, den ArbeitsmigrantInnen auf gleicher Augenhöhe, betrachtet sie als ihre Partner und Künstlerkollegen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Videofilm „The Bronze Horseman“ (20. August 2014). Wir sehen eine Brigade von Reinigungskräften, die als Arbeitsmigranten aus den nichtrussischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion freudlos und ernst den Platz um den „Ehernen Reiter“ in St. Petersburg von Abfällen säubern. Plötzlich, aus einer Laune heraus, oder aber auch verabredet, lassen sie ihre Besen fallen, brechen in schallendes und befreiendes Gelächter aus, fangen an zu tanzen und machen den Schauplatz ihrer demütigenden Arbeit zum Ort kollektiver Selbstvergewisserung und Lebensfreude. Auch die Passanten und Touristen werden davon erfasst und lassen sich mit den Arbeiterinnen fotografieren. Lachen und Tanzen verbindet, ist Ausdruck von Lebensfreude und bringt wildfremde Menschen in Kontakt zueinander.
Seit 2014 sind Olga Jitlina und Igor Kravchuk Herausgeber, Redakteure und Autoren einer Zeitschrift, die sie gemeinsam mit Arbeitsmigranten und Künstlern publizieren: „Nasreddin in Russia“ nennt sich diese satirische Publikation, die nichtkommerziell verbreitet wird.
Hodja Nasreddin ist der Name einer legendären Figur, mit der sich humoristische Geschichten im gesamten türkisch-islamisch beeinflussten Raum vom Balkan bis zu den Turkvölkern Zentralasiens verbinden. Er soll im 13./14. Jahrhundert im südwestlichen Anatolien gelebt haben. Auch in Sowjetzeiten war er eine aus Anektoden, Büchern und Filmen vertraute populäre Figur. Vergleichbar mit einem Till Eulenspiegel in Deutschland, verkörpert er eine bunte Mischung aus Volksweisheit, Schlauheit und ist nie um eine Antwort verlegen.
In den Comics der Zeichnerin Anna Tereshkina trittNasreddin mit Turban, blau-weiß gestreiften Kaftan und roten Hosen alsselbstbewusster, gewitzter und fintenreicher Schelm auf, der als Arbeitsmigrant mit Turban aus den kaukasischen und zentralasiatischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion mit islamischen Hintergrund seinen Leidensgenossen mit klugen Ratschlägen aus der Patsche hilft, schlagfertig mit der Polizei umzugehen versteht und Auswege aus dem Labyrinth bürokratischer Schikanen und krimineller Ausbeutung weist.
Z.B. „Polizei: Zahlen Sie 5.000 Rubel oder verbringen Sie die Nacht auf dem Poizeirevier.
Nasreddin: Was für ein preiswertes Zimmer! Ist das der Mietpreis für einen Monat?“
Olga Jitlina, die Arbeitsmigranten und ihr Team diskutieren in der Zeitschrift, inspiriert von ihrer Kunstfigur, nach Möglichkeiten von gewaltlosen, zivilen Widerstand. Sie schreiben, wir brauchen viele Nasreddins in Russland heute. Dieser sich naiv stellende, weise Narr wird zur Symbolfigur des zerfallenen Sowjetreichs, dessen nichtrussischen Völkern jetzt die Großrussen mit rassistischen Ressentiments entgegen treten. Sie fragen sich, kann das Lachen, das Nasreddin auslöst, zumindest zeitweise, vergessen lassen, was sie voneinander trennt? Können Reiche und Arme, Polizisten und Akademiker über die gleichen Witze lachen? Oder ist der Humor gebunden an Herkunft, Erziehung, Einkommen und Sprache? Kann Humor rassistische Vorurteile abwehren? Zusätzlich haben sie noch eine Schwester von Nasreddin erfunden und sich ausgedacht, wie die beiden reagieren würden auf die typischen Situationen, in die Arbeitsmigranten so häufig geraten.
Inzwischen sind seit 2014 drei Nummern erschienen. Die erste beschäftigte sich mit dem Thema Wohnen, die zweite mit Massenmedien und Zungenbrechern.
In der dritten Ausgabe („Your Work or Your Life?“) denken Olga Jitlina und ihre Kollegen darüber nach, was Migranten und Künstler gemeinsam haben. Entgegen der Konvention, dass die einen physische Arbeit leisten, also ihren wahren Bedürfnissen entfremdet, während die anderen ‚kreativ’ sind, gibt es doch viele Parallelen im Arbeitsalltag auf beiden Seiten. Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass diejenigen, die hart, und in der Regel länger als die Arbeitsvorschriften erlauben, arbeiten müssen, dazu noch von der Polizei und rassistischen Angriffen bedroht sind, keine Zeit und Kraft haben, Kunst zu machen. Diejenigen aber, die von ihrer Kunst leben, seien frei und können sich kreativ entfallen.
Olga Jitlina stellt diese Vorstellung der Aufteilung von physischer und geistiger Arbeit grundsätzlich in Frage. Ist die künstlerische Tätigkeit inzwischen nicht genauso erbarmungslos den Zeitplänen und Zwängen des ökonomischen Wettlaufs unterworfen wie jede andere Form von Fließbandarbeit? Künstler und Arbeitsmigranten verbindet u.a., dass sie keinen bezahlten Urlaub haben, keinen Krankenurlaub und keine Rente. Beide Gruppen greifen nach jeder Arbeit, die sie bekommen können und gehen bis an die Grenze der physischen und psychischen Erschöpfung. Die Selbstausbeutung ist also ein gemeinsames Merkmal. Unser Leben ist unsere Arbeit, unsere Arbeit ist unser Leben. Die Arbeit bestimmt jeden Winkel des Alltags, Freundschaften, Liebe bis in den Schlaf. Dafür ist künstlerische Arbeit motiviert durch den Glauben an eine bessere Zukunft, die damit beginnt, eine wahrhafte, realistische Sprache zu entwickeln.
Nicht zuletzt müssen Künstler Jobs in der realen Arbeitswelt übernehmen, um sich über Wasser zu halten. So bekommen sie aber auch unmittelbaren Einblick in die Arbeitsverhältnisse. Bereits 1959 schlug das von der SED geplante Prinzip der Erziehung des Künstlers durch die Arbeiterklasse auf der Erste Bitterfelder Konferenz 1959 in der DDR in sein Gegenteil um: Die Künstler solidarisieren sich mit den Arbeitern und ihrem Widerstand gegen schlechte Arbeitsbedingungen.
Wenn Künstler und Intellektuelle sich als Teil eines weltweiten Prekariats verstehen, ist das keine schlechte Voraussetzung für eine Zusammenarbeit. Dafür bringt die Ausgabe der Zeitschrift viele Beispiele, wie das „Uzbek LOL“ im Internet. Ohne ihre Arbeitsplätze zu verlassen, benutzen Arbeiter ihre Werkzeuge als Musikinstrumente. Weltweit beobachtet Olga Jetlina neue Transformationen von physischer in kreative Arbeit und neue Kunstformen, die unabhängig vom offiziellen Kunstsystem funktionieren, in dem das Kunstwerk nicht mehr danach bewertet wird, was es bedeutet, sondern nur noch danach, was es kostet.
Die Erste Industrie Biennale (Industrial Biennal) zeitgenössischer Kunst in Jekaterinburg 2010 widmete sich z.B. dem Thema Stoßarbeiter/Bestarbeiter (Cosmin Costinas, Ekaterina Degot und David Riff).
Im August 2014 realisierte Olga Jitlina „Hodja Nasreddin Contest on Mobile Discoteque“ in Zusammenarbeit mit dem spanischen Künstler Jon Irigoyen und der Unterstützung der „Cologne Academy of Arts of the World“ sowie dem öffentlichen Begleitprogramm der Manifesta 10.
Mit der von Anna Tereshkina bemalten mobilen Diskothek, die zwischen Lautsprechern die Figur des Nasreddin auf einem Flugzeug reitend und das Motto „Wenn Humor die einzige Waffe ist“ auf dem Dach eines PKW zeigen, geht es auf den Markt der Migranten nicht weit vom Nevskij Prospekt. Hier wird, angeregt von den lateinamerikanischen, kaukasischen und zentralasiatischen Rhythmen der mobilen Disko, spontan und improvisiert ein Fest gefeiert, getanzt, gelacht, posiert. Die fliegenden Händler, die von den russischen Massenmedien als eine gesichtslose, düstere und kriminelle Masse gezeichnet wird, bekommen plötzlich ein fröhliches, heiteres Gesicht, sind sympathisch und gewinnend. An verschiedenen Plätzen, Märkten und Cafés in St. Petersburg organisierte Olga Jitlina im Sommer 2014 ihre Witze-Wettkämpfe/competitions of joke unter den in der Stadt lebenden Migranten. Die Gewinner bekamen Preise. Ein Film und ein Buch mit Illustrationen von Anna Tereshkin, ist in Vorbereitung (Herbst 2014??)
Ihr „Requiem for a Creative Class“ (10. November 2014) ist ein wunderbarer ironischer Abgesang auf die kreative Klasse, im russischen Slang creacle genannt. In einem schwimmenden Sarg (er war in der Ausstellung „Tales of 2 Cities“ im Jüdischen Museum Wien Anfang 2015 als Kunstobjekt zu sehen), einem „lonely floating creacle“ (Victor Lubimtzev) an der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen, sitzt ein Musiker in exotischer Tracht und streicht die Saiten seines Instrumentes, begleitet von einem sarkastischen, kulturkritischen Text, gesprochen von Dmitry Golynko am Ufer.
Am 2. Dezember wird in der Kampnagel Fabrik in Hamburg ihre Asyloper „Translation“ uraufgeführt. Asylbewerberinnen und Bewerber zusammen mit Opernsängerinnen und Sänger werden die Asylanträge von Flüchtlingen als Arien singen. Der Antragstext ist für die Flüchtlinge von existentieller Bedeutung und steht in Nichts den großen Tragödien, Illusionen und Hoffnungen nach, die sich in den Opernlibrettos der europäischen Musikliteratur niedergeschlagen haben.
Olga Jitlina inszeniert sich nicht als Großkünstlerin, um den Kunstmarkt zu beeindrucken. Sie nimmt sich selbst zurück, arbeitet im Kollektiv mit Kollegen und Migranten, ist Ideengeberin, Gestalterin und Produzentin in einer Person. Ihr Sinn für Humor, ihre befreiende Botschaft, mit der sie den öffentlichen Raum zurück erobert für das Lachen, Tanzen und die angstfreie Kommunikation aller Städtebewohner, ihre Beobachtungsgabe, ihr analytischer Scharfsinn, ihre Empathie holen diejenigen ins Kunstgeschehen zurück, die als angeblich Nicht-Kreative, Nichtintellektuelle aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen sind.
Olga Jitlinas Arbeit wird weltweit beachtet und gezeigt, z.B. in Finnland, Schweden, Polen, der Tschechischen Republik, Holland, Österreich und Italien.
In Deutschland ist sie noch viel zu wenig bekannt. Vielleicht hilft der Hans-und-Lea- Grundig-Preis, dass sie auch in Deutschland ihr Publikum findet und fasziniert.
Ein Mitschnitt der Laudatio findet sich online unter www.rosalux.de/mediathek/media/element/634