Marc Chagall

Marc Chagall [1] kam zu Beginn unseres Jahrhunderts in der Stadt Witebsk, im Russischen Kaiserreich, auf die Welt und wuchs in einer jüdischen Großfamilie mit Großvater, Großmutter, Onkeln und Tanten auf. Bereits als Kind, und so auch als Erwachsener, malte er seine Witebsker Welt: seine Stadt, seine Familie, seine geliebte Frau, seine Kinder. Das ist sein Umfeld. 

Später kam seine Reise nach Paris hinzu, wo er als ungefähr Zwanzigjähriger seine Bilder ausstellte. Die großen französischen Meister aller Generationen und das hohe Niveau der französischen Kunst hinterließen bei ihm einen tiefen Eindruck, wovon er viel in sich aufnahm. Das künstlerische Paris, die Stadt, die keiner anderen Stadt ähnelt, die Stadt des freien Geistes, sie verstand Chagall, sie liebte ihn, sie bewunderte ihn. Sie nahm den Juden aus Witebsk in ihr großes Herz auf, und aus Chagall wurde ein berühmter Maler, der eine Revolution hervorrief. Man benannte ihn mit verschiedenen Fachbegriffen – Futurist, Expressionist usw. usf., doch in Wahrheit blieb er, was er war, ein Maler, der malen musste, und seine Kunst gedieh in der ach so gedrängten und jüdischen Atmosphäre seiner Stadt Witebsk.

Seine Kindheit war von der Liebe der Familie, den Geschichten des Großvaters und des Rabbiners geprägt. Seine Augen nahmen die Umschläge der heiligen Schriften auf, das Lila des Tefillin-Säckchen, die von Schabbatleuchtern flimmernde Luft. Die “Klezmer” spielten, die Händler gingen ihrer Wege, mit dem Rucksack auf dem Rücken, und rundherum: die Pferde, die Kühe, die Hauskatze, der Schnee auf den Dächern, auf den Zäunen; Hochzeit, Geburt, Beerdigung, Feiertage, die Synagoge – die kleine, begrenzte Welt, und daher dem jüdischen Erleben geistig so nah. Und dieser jüdische Junge, mit seinem lockigen Haar und seinem zarten und feinen Gesicht – malte sie für uns.

Der Junge wuchs heran und lernte, noch besser zu malen und die Farben noch besser einzusetzen. Doch ist in seinen Bildern – wie bei jeder wirklich großen Kunst – die nationale Figur nur ein Gewand für die freie, menschliche Seele. Diese Kunst Chagalls – mit der Schönheit ihrer inneren Bezüge, mit ihrem zarten Umgang mit dem Alltäglichen, mit ihrer Verpflichtung dem schönen Leben gegenüber –  sie ist allen Menschen verständlich, überall, zu allen Zeiten. Seine Augen sind die eines gläubigen Jungen. Er schaut auf den Vater und umarmt die Mutter, streichelt die Tiere und erzählt sich selbst Märchen. Später kommt an die Stelle seiner Mutter die geliebte Frau – seine Frau. Wenn er sie malt, zeigt er uns das in seinen Augen Schönste und Liebenswürdigste. So entstanden die wunderbaren Bilder der Liebenden mit den Blumen.  

Blumen – sie werden bei uns in Mengen gemalt, unproportional viel, da ihre Farben den Maler anziehen, da sie allen Menschen gefallen, weil man sie gut an eine freie Wand hängen kann. Jedoch, wenn man wirklich wissen will, was eine Blume ist, schaut euch den Blumenstrauß an, der zwischen den fünf Bildern Chagalls an der schmalen Wand im Museum Tel Aviv hängt. Die Blumen, diese zarten Gestalten wurden erschaffen, um unsere Herzen zu erfreuen, der träumende Kopf des Malers sinkt herunter und neigt sich dem angenehmen Duft entgegen; und das Blau, das Rot, das Grün und das Weiß jubeln. 

Alles in dieser Welt ist, wie es sein soll. Unsere Welt ist gut, wir lieben und umarmen sie, wenn der jüdische Umarmende die Tora in seinen Armen hält, auf dem Bild, das an derselben Wand hängt. In dieser Welt gibt es keine Konflikte, keinen Aufstand, sie ist jenseits aller Analyse und Kritik. Eine warme und angenehme Welt – ein sicheres Nest. Es gibt in ihr fast kein Leid. Und wenn es uns durch die Augen des Musikanten im Schnee gespiegelt wird, so ist es ein leises und gemäßigtes Leid.

Seine Sehnsucht treibt Chagall an, seine Freude lässt ihn in die Höhe steigen. Seine Häuser, Menschen und Tiere bewegen sich nicht in einem konkreten und uns sichtbaren Raum,  sondern ihre inneren Beziehungen bringen sie geistig einander näher. Seine Originalität berührt das Herz, die Originalität und die Schlichtheit. Eine Linie zieht sich von den Skizzen seiner Kindheit, der Frucht der inneren Erkenntnis eines Kindes, durch bis zu den Werken des vollkommenen Künstlers. Ihm blieb die Krise, die die Werke vieler Künstler begleitet, erspart, der Zeitpunkt, an dem sie von der anfänglichen Unwissenheit zur Fähigkeit übergehen – der Frucht des Wissens.

Wenn wir uns Chagalls Formen und Farben nähern und sich unsere Augen an seinen originellen und überraschenden Ausdruck gewöhnen, dann fühlen wir uns, als ob wir vollkommen unerwartet ein kostbares Geschenk von Sanftheit und Liebe bekommen hätten. Hier lesen wir in seinem Tagebuch aus dem Jahr 1931: „Ich denke gerne an meine Eltern, an Rembrandt, an meine Mutter, an Cézanne, an meinen Großvater, an meine Frau – ich weiß, dass Rembrandt mich liebt.” Wie ein Kind spricht er.

Sein Weg führte Chagall von Witebsk nach Paris und wieder zurück nach Witebsk und von dort aus nach Moskau und dann nach Amerika. Einmal kam er auch hier ins Land, und aufgrund dieses Besuches sieht man auf seinen Bildern Die Synagoge in Zfat, eine kleine, schmale und schiefe Synagoge, die der von Witebsk ähnelt. 

Sein Werk ist umfassend. Neben Ölbildern gibt es viele grafische Arbeiten: Illustrationen zu Die toten Seelen des großen russischen Schriftstellers Nikolai Gogol; zu den Fabeln Jean de La Fontaines und das große Werk der Bibelillustrationen. Sie sind aufgrund der vollkommenen Identifizierung des Künstlers mit dem Thema für uns besonders wertvoll: Das biblische Thema ist für ihn ein persönliches Erleben, so als wäre ihm selbst widerfahren, was den Protagonisten der Bibel widerfuhr. Die biblischen Bilder kommen dem Geist des großen Italieners nah – Giotto di Bondone, das ist der noch unschuldige, nicht geschliffene Geist des Anfangs.

Wir werden nicht aufhören, Chagall, den Juden, den Frommen, zu lieben – auch andere werden nicht aufhören, ihn zu lieben, wenn sie nur wissen, wie man den Menschen liebt. 

Aus: Dvar Hapoelet vom 14. Januar 1946. Übersetzung aus dem Hebräischen: Michal Bondy

[1] Russisch-französischer Maler (1887–1985), Mitbegründer des Surrealismus.