Malerinnen und ihr Weg

Das Streben nach Kunst, der Drang danach, sich auf jede Weise, die unsere Sinne und die uns zur Verfügung stehenden Mitteln ermöglichen, auszudrücken – ist ein ewiges Bestreben. Der Kampf um seine Verwirklichung ist allerdings hart. Denn bei den in unserer Gesellschaft herrschenden Verhältnisses wird der Kunst nur wenig Raum eingeräumt. Die so wichtigen Kräfte des Künstlers gehen in diesem Existenzkampf verloren.

Hier in unserem Land voller Probleme, in der Hitze der politischen und wirtschaftlichen Spannungen; in einem wechselhaften Klima zwischen Fülle und Dürre; zwischen Menschen aus Asien und Europa; im angestrengten und schweren Kampf für das Neue und das noch Kommende – hier ist der künstlerische Ausdruck ein Verlangen, zu dem man aus einem festen Willen heraus strebt.

Der Pionier-Charakter unseres Landes hat sich auch auf dieses Verlangen abgefärbt. Unser Schaffen ist nicht einfach eine Ergänzung zu dem, was bereits seit langem existiert. Es ist ein schöpferisches Handeln. Jede neue Fabrik, jedes neue Baustelle, jeder neue Häuserblock, jeder schaffende Mensch fällt hier mehr auf als an jedem anderen Ort. Aufgrund der Notwendigkeit, sich von vielen alten Gewohnheiten zu verabschieden und eine neue Arbeit und einen neuen Lebensstil zu finden, müssen hier viele Menschen, auch die, die dem Jugendalter entwachsen sind, die Fähigkeit beibehalten sich zu erneuern. So beeindruckt hier im Land ein an anderen Orten seltenes Phänomen: Menschen, die sich im hohen Alter plötzlich der Kunst zuwenden.

In den letzten Jahren konnten wir hier einige Ausstellungen von Künstlerinnen sehen, die ihren Weg in die Kunst erst im Alter fanden.

Ich möchte von einigen dieser Frauen erzählen, deren Wege grundverschieden voneinander sind, doch ihr starker Drang zur Malerei ist ihnen gemeinsam. Die Unterschiede in ihren sozialen und gesellschaftlichen Positionen heben den besonderen Charakter unserer Gesellschaft nur hervor.

Ich besuche Asja Wolf, ich betrete das Eingangszimmer eines ruhigen und schönen Hauses, dessen Wände von Bildern bedeckt sind. Asja Wolf malt seit zehn Jahren. Wie ist sie zur Malerei gekommen?
Sie kam in Russland auf die Welt. Ihr Vater war auch Maler, jedoch hörte er auf zu malen, als Asja noch ein kleines Mädchen war – der Tod der Mutter war der Grund dafür. Sie sah ihren Vater selbst nicht malen, doch ist in ihrem Gedächtnis der deprimierende Eindruck unvollendeter Bilder erhalten geblieben. Als Jugendliche wandte sie sich der Mathematik zu, reiste durch viele Länder und sah die großen Kunstschätze in den berühmten Museen. Sie sah wunderbare Bilder, doch der Drang zur Kunst erwachte nicht in ihr.

Das Ehepaar Wolf kam nach Eretz Israel. Dieses Land mit seinen leuchtenden Farben, der Zauber der vielseitigen und sich verändernden Umgebung gaben den Anstoß und Asja Wolf begann zu malen. Am Anfang studierte sie im Land, danach fuhr sie nach London und studierte bei Heatherley [1].

Asia Wolf lebt in ruhiger Atmosphäre in einem gepflegten Haus. Ihr natürliches Talent wuchs und entwickelte sich ohne ihr Wissen. Wie ein keimendes Samenkorn in der Erde wuchs das Talent heran, wurde befruchtet und entwickelte sich dank des Wissens über die moderne Kunst, der Meisterwerke in den Museen und ihrer Reisen. Und als der Keim sichtbar wurde, war er schon vollkommen und vielversprechend. Selbstverständlich muss man arbeiten und lernen. Jedoch gibt es wenige, deren Talent sich unter so guten und unterstützenden Bedingungen entwickeln konnte.

Der Ort, die Umgebung – das ist ihr Hauptthema und darüber hinaus sind es Blumen und Porträts. Ihre Arbeitsweise ist ihr vollkommen klar, denn sie versteht es, ihr Talent entsprechend einzusetzen; es ist die direkte Erfassung der Stimmung der Landschaft. Sie kennt das Geheimnis der harmonischen Identifizierung des Betrachters mit der Natur.

Sie zeigt mir ihr neuestes Bild: Eine Straße nach dem Regen. Ein kleines, graziles Bild, durchtränkt von Lyrizität. Die Straße erstreckt sich über den Horizont hinaus und die Zweige der Bäume geben diese Bewegung wieder.

Das Licht ist für sie das entscheidende Element – das Licht, das den Schatten wirft, das die Farben bestimmt, das sich in jedem Moment ändernde Licht. Daher muss es ihr gelingen, den Ausdruck des einmaligen Moments schnell zu erfassen und umzusetzen, bevor er in dem sich ändernden und die Umgebung verändernden Licht wieder vergeht. Daher arbeitet sie einige Stunden an einem Bild.
Manchmal verliert sie sich in der Landschaft und ihren augenblicklichen Ausdruck bis hin zur Sentimentalität.

Asja reist viel im Land umher. Ihre Orte sind ihr so vertraut, wie die Gesichter von bekannten und geliebten Menschen. Ihre Bilder sind die einer Frau, die das gute und außergewöhnliche Leben eines Menschen führt, der sich der Kunst vollkommen hingeben kann. Dies spiegelt sich in ihren Bildern, mit ihrer leichten Anmut und ohne von Problemen beschwert zu sein, wider.

Nun gehe ich zu Rachel Rubin [2]: ein Zimmer im Norden Tel Avivs, das sie sich mit einer Freundin teilt. Ihre letzte Arbeit ist mit Reißzwecken an einem Rahmen befestigt. Der Kopf eines jungen Mädchens. Ein blasses Gesicht ohne Ausstrahlung, das fast im Dunkel des Hintergrunds versinkt. Das Bild ist von einem derart finsteren und starren Leuchten durchzogen, dass ich mich geradezu erschrecke.

Rachel Rubin – die Malerin ist eine Arbeiterin, sie pflanzt Bäume in der Stadt. Jeden Tag acht Stunden physischer Arbeit. Wie begann sie auf einmal zu malen? Das war vor sechs Jahren, anlässlich einer Ausstellung der “Studia” von Aharon Avni. Sie wollte schon immer malen, und das bereits als Kind. Als sie dann in der Ausstellung war, wusste sie sofort: Das ist eine Möglichkeit. Sie begann die Abendkurse bei Avni zu besuchen und zu malen.

Rachel Rubin kommt aus Polen. Die jüdische Kleinstadt und die Armut der Familie – das sind ihre Jugenderinnerungen. Ihr Leben – das Leben eines jüdischen Mädchens war schwer und eingeschränkt. Doch ihr Streben nach Wissen, Kultur und Freiheit ist ausgesprochen stark.

Das Leben hat es ihr nicht leicht gemacht. Sie geht den Weg einer Arbeiterin, deren einziger Besitz ihre Arbeitskraft ist. In ihren Gedanken ist sie bei der, Menschen verletzenden, Katastrophe, beim schrecklichen Schicksal und all diesen gesellschaftlichen und politischen Problemen. Sie hat nur wenig Freizeit und wenig Kraft und viele Hindernisse auf ihrem Weg: Die blendende Sonne strahlt direkt in ihre Fenster und sie hat kaum Platz in ihrem Zimmer.

Was möchte sie malen? – Den Menschen und alles, was mit ihm zu tun hat, sein Leid und sein Schicksal. Mit ihrem Enthusiasmus erinnert sie an Rembrandt – obwohl sie noch nie ein Originalbild von ihm gesehen hat.

Sie legt Bilder vor sich hin, die Ernte von sechs Jahren. Es sind nicht viele, aber wenn man bedenkt, dass sie in den Stunden entstanden sind, die zur Erholung eines physisch arbeitenden Menschen vorgesehen waren, und unter jahrelangen schlechten Bedingungen – dann betrachtet man diese Bilder mit anderen Augen.

Wir haben hier eine Landschaft, ein Porträt, Blumen. In der Landschaft gibt es keine Weichheit, keine Harmonie, keine Ruhe. Ein Blumenstrauß ist wie ein Feuer, die Blumen – kleine flackernde Flammen. Alle Köpfe sind blasse Gesichter auf einem bedrohlichen Hintergrund. Eines ist aber besonders spürbar: Hier kämpft ein sehr starker Wille. Die Gestalt ist noch nicht fertig, aber man spürt die Kraft und erwartet sie.
Rachel Rubin akzeptiert nichts, wie es ist: Was ihr nicht gefällt – das ändert sie, egal ob es sich um die Form von Objekten handelt oder ob es die Gesichter ihrer Modelle sind. Sie fügt hinzu oder lässt aus. Der Wille, das Existierende zu verändern, kommt in ihren Bildern zum Ausdruck.

Die Objekte, die Farben sind in Dunkel getaucht, nur manchmal werden die Farben stärker und es kommen leuchtende Farbflecken zum Vorschein. Ein ewiger Kampf zwischen der Dunkelheit und dem Licht. Mit einer erschütternden Klarheit bringt die Künstlerin hier – ohne Absicht – das soziale und persönliche Schicksal zum Ausdruck, sowie den unbesiegbaren Drang eines ausgebeuteten Menschen nach Kultur und dem freien und schönen Leben.

Sarah Voskobojnik kam aus Kišinëv nach Eretz Israel. Sie war die jüngste von drei Schwestern, ein träumendes Mädchen voller großer Erwartungen. Bereits in Russland füllte sie ganze Hefte mit Liedern und Geschichten.

Die drei Schwestern machten sich auf den Weg nach Eretz Israel, ins Kibbuz. Viele Jahre führte Sarah in Ein Harod ein hartes Arbeitsleben, das aber auch erfüllt und voller Freude war. Jedoch erkrankte sie auf einmal und davon wurde auch ihre Lebensfreude verletzt. Sie verließ den Kibbuz und ging nach Haifa.
Sie weiß nichts mit sich anzufangen, ist auf rastloser Suche und versucht sich im Schreiben. Sie beginnt einen Roman über das Leben im Kibbuz zu schreiben.

Ein kleines Mädchen sitzt im Viertel Neve Sha‘anan und malt mit Stiften in verschiedenen Farben. Sarah, die zufällig vorbeikommt, sieht das Mädchen mit ihren Stiften und plötzlich erwacht auch in ihr der Drang, zu malen. Sie bittet um Papier und Farben und beginnt zu malen. Sie sitzt dort, bis die Dämmerung sie nach Hause schickt.

Dieses kleine Blatt Papier liegt vor ihr. Diese Kombination ist seltsam und berührt das Herz zugleich: die Landschaftslinien zeugen von einem tiefen Gefühl und die Farben wurden von einer ungeübten Hand aufgetragen.

Sie geht nach Tel Aviv und sucht nach Arbeit, sie findet verschiedene Anstellungen, schwerere und weniger schwere. Und sie malt. Sie ist eine kleine, schmale Frau, die ein Kind versorgen muss und unter all diesen Bedingungen malt sie. Sie hat die Kraft, dies zu tun. Das kleine Zimmer wird immer kleiner. Die Bilder stapeln sich, die Mappen nehmen fast den ganzen Platz ein, der Reichtum an Bildern ist größer als der Mangel an Möbeln.

Es sind viele Jahre vergangen, seitdem sie eine kurze Zeit im Studio von Frenkel [3] studierte. Aus ihrem plötzlichen Erwachen entwickelte sich die unaufhörliche Bemühung, in Farbe und Zeichnung den ersehnten Ausdruck zu finden. Heute kann sie ein umfassendes Werk vorweisen, sie malt Blumen, Landschaften, Porträts und Stillleben aus einer eigenständigen und beharrlichen Haltung heraus. Sie malt sie aus einer rein künstlerischen Haltung heraus, die frei ist von jeglicher Routine. Eine wunderbare Sanftheit befindet sich auf diesen Blättern. Die Blumen sind zart, ihre gesamte, kurzlebige Blüte und das schnelle Ende leben in ihnen.

Ihr Bestreben in ihren Porträts und Kinderbildern ist klar: Sie möchte das Wichtigste im Menschen zum Ausdruck bringen. Ihr klares Gefühl bewahrt sie vor Umwegen. Ihre Arbeit ist sehr ehrlich. Sie versucht nicht, mehr zu sein, als sie ist und zu beeindrucken; ihre Arbeiten zeigen genau das, was die Malerin kann und auch, was sie nicht kann.

Ein Bild ähnelt einem Körper. Es mag sein, dass es in ihm Teile gibt, in denen die Kraft fließt und die ein intensives Leben haben. Dagegen gibt es auch dunkle und kühle Stellen, in denen das Gefühl und die kreative Kraft des Kunstwerkes sie nicht zum Leben erwecken.

In den Landschaften von Sarah, in denen auch Leute zu sehen sind, zeigt sich ihre Schwäche in der Darstellung von Menschen. Die Schönheit des Impulses und auch das natürliche Talent reichen nicht aus.
Die Begabung ist nur der erste Grundstein. Nur die Entwicklung der eigenen Erfahrung hin zur allgemeinen Erfahrung, nur die Gestaltung der eigenen Empfindungen zu einer Figur, die jedem verständlich ist – erst das ist Kunst, und für dieses Ziel kämpft die Kunst auf vielen Wegen.

Sarah Voskobojnik ist unermüdlich auf der Suche. Mit der gleichen Courage, mit der sie unter schwierigen Bedingungen um ihre künstlerische Fortbildung kämpft, kämpft sie auch um die Gestaltung ihrer Welt.

Sarah ist ein Zeugnis für die Entdeckung der Quellen der plastischen Gestaltung, die während vieler Generationen in der Seele des Volkes verborgen lagen und die jetzt aus den Tiefen des Erdbodens unseres Landes herausbrechen und uns ein neues, warmes Lebensgefühl verleihen.

Aus: Dvar Hapoelet, 10. Jg., Heft 11/12 vom 31. Dezember 1944. Übersetzung aus dem Hebräischen: Michal Bondy.

[1] Heatherley School of Fine Art, eine der ältesten unabhängigen Kunstschulen Großbritanniens mit Sitz in London (gegründet 1845).
[2] Rachel Rubin (1912–2006)
[3] Isaac Frenkel (auch Yitzhak Frenkel oder Alexandre Frenel, 1899–1981), israelischer Maler und Bildhauer. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Yitzhak_Frenkel_Frenel.