Die Zeichnungen von Mané-Katz

Ein großer Denker sprach einmal von dem besonderen Zauber unvollendeter Werke – über die Schönheit einer nicht fertiggestellten Skulptur, über die Schönheit eines ersten Entwurfs, einer Skizze. An diese Idee erinnerte ich mich beim Anblick der großen Ausstellung von Mané-Katz [1]. Denn der schlagende Puls, der in seinen feinen Bleistiftzeichnungen zu spüren ist, fehlt in seinen großflächigen Ölbildern.

Daher wollte ich eine intensive und konzentrierte Betrachtung der Skizzen des Künstlers anregen, denn es ist bei uns üblich, die Ölmalereien mehr als die Zeichnungen zu würdigen. Freunde, vergesst nicht: Jedes Kunstmaterial ist nur ein Mittel zum Zweck, der wahre Wert eines Werkes hängt nicht vom Material ab, mit dem es erstellt wurde. Er hängt allein von der Stärke des Gestalters ab, der das Material zur Hand nimmt und daraus eine Gestalt anfertigt.

Von den vielen Skizzen, die die Ausstellungsräume füllten, werde ich nur die schönsten erwähnen, die den besonderen Charakter ihres Erschaffers zum Ausdruck bringen. Das Bild „Die Pferde und die Reiter“ ist eines davon. Die Körper, die aus einer großen Spannung heraus beben, wurden fast von jeglicher Starre befreit und sind nur Bewegung. Dies wurde durch den leichten, hastigen Schatten und die zuckenden Linien erlangt, welche lebendigen Nerven ähneln. 

Die feine, gefühlvolle Bleistiftzeichnung, welche wie ein Seismograph auf jegliche innere Regung des Künstlers reagiert – dies ist die reine Essenz der künstlerischen Stärke. Dieser Kraft entspringen diese wunderbaren Bilder, von denen „Der Vater mit dem Kind“ eines ist. Ein jüdischer Vater aus einer tiefen menschlichen Perspektive: große und einfache Linien bringen Ehrfurcht und Anmut in seinem Gesicht zum Ausdruck. Schön ist die verborgene Zartheit, die den Vater und das Kind zu einer Gestalt vereint. Dieses Bild ist wirklich gigantisch, obwohl seine Mittel und sein Umfang bescheiden sind.

Ein feiner, lebensvoller Eindruck der Alltäglichkeit des einfachen Juden findet sich in „Die Chupa“ und noch stärker in „Die Kinder im Cheder mit den Alten“. Die Zeichnung der Seelen ist monumental und gibt den nationalen Charakter unseres schrecklichen Weinens über unsere Toten wieder: Einer fällt zwischen den vielen Toten über den Leichnam eines anderen und beklagt unsere Opfer. Der einzige Kopf in der Tiefe des Bildes steht als Symbol für Millionen. Diese ist, von der Komposition her, die schönste und tiefgründigste Zeichnung, die Mané-Katz geschaffen hat.

Das gleiche Thema kommt auch in einem Ölbild vor, doch erscheint mir der graphische Stil, aufgrund seiner vollkommenen Verschmelzung von passiven Schattierungen mit dem intensiven und aktiven Zeichenstrich, von unschätzbarem künstlerischem Wert. Hier sehen wir das Gesicht eines Schülers des “Cheders”: Zierlichkeit und Unschuld eines Kindes und Ernsthaftigkeit eines Lernenden und Denkenden.

Gehen wir nun zu den Bildern der „Musiker“ über. Dies ist ein uns bekannter Bereich – enthusiastisch, etwas komisch und voll von naivem Zauber. Er erweckt in uns Erinnerungen an Mendeli, Schalom Aleichem und an die gesamte jüdische Welt, die es nicht mehr gibt. Da sind sie: der Kontrabassist, der Trommler, der Geiger, der Flötist und alle anderen. Das Instrument und der Musiker verschmelzen miteinander zu einer wunderschönen Einheit. Hier ist der wunderbare Kontrabassist, voll von Zauber und Freude, während er den riesigen Körper seines lauten Instruments umarmt. Oder der Flötist, lang und dünn, wie sein Instrument selbst. Der Trommler, dessen Hut ihm in den Nacken fällt, vergisst vor lauter Begeisterung im Spiel seine ganze Umgebung; genau wie er, ist auch der Geiger voller Begeisterung. 

So ist er, der Musiker, dessen Instrument ein Teil seiner selbst ist, der Musiker, der die Welt der Realität um sich vergisst und mit der Ernsthaftigkeit, ähnlich einem in seiner Spielwelt versunkenden Kindes, in sein Musizieren versunken ist. Das ist der Musiker und darüber hinaus – ein kleiner, armer jüdischer Musiker, mit der Begeisterung eines Chassiden. 

So kommt durch den Verzicht auf ein programmatisches Bild und starker Symbolik die einfache jüdische, menschliche Essenz zum Ausdruck. Der Genuss von Werken echter Kunst erwirbt sich nicht ohne Weiteres: man muss das Werk erobern. Es fordert vom Betrachter Engagement und Vertiefung. Dann spendet es im Gegenzug eine Freude, zu der nur die Kunst im Stande ist.

Aus: Dvar Hapoelet vom 31. August 1948. Übersetzung aus dem Hebräischen: Michal Bondy

[1] Emmanuel Mané-Katz (1894–1962), französischer Maler.