Ines Weizman & Team: „Aus dem zweiten Leben. Dokumente vergessener Architekturen“ / „From the Second life. Documents of Forgotten Architectures“

Laudatio: Oliver Sukrow. Berlinische Galerie, 26. November 2015

Das interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungsprojekt kombiniert mit den beiden Medien Architektur und Film die Frage über das Schicksal von Architekt*innen und Künstler*innen, die von den Nationalsozialisten zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen worden waren. Ausgehend von Archivrecherchen und der Arbeit der deutsch-israelischen Architektin, Bauhistorikerin und Schriftstellerin Myra Warhaftig (1930-2008) auf dem Gebiet der Migrations- und Exilforschung, hat das vielköpfige Team um Weizman und Wolfram Höhne (Künstler, Filmemacher, Dozent), Markus Schlaffke (Künstler, Filmemacher, Dozent) und Volkmar Umlauft (Filmemacher, Dozent), eine beeindruckende, beziehungs- und perspektivreiche Arbeit vorgelegt.

Dabei geht es, wie der Titel verrät, sowohl um die biografischen Schicksale als auch um die Architekturen dieser Schicksale. Beide Kategorien entreißt das Projekt dem Vergessen und bringt nicht nur das Nachleben der im Exil errichteten Gebäude zu Tage, sondern auch das Nachleben der Gebäude, welche die Architekt*innen vor dem Verlassen ihrer Heimat zurückließen. Das Projekt versteht Architektur nicht nur als baulich umfassten Raum, sondern in erster Linie als soziale, politische und lebensweltliche Kategorie. So nimmt es konsequenterweise die verschiedenen Akteure in den Blick: die Architekt*innen, die Bewohner*innen, die Auftraggeber*innen, die Nutzer*innen. Durch diese differenzierten Perspektiven, die sich unter anderem auch in der formalen und medialen Vielfalt der Ausstellungsbeiträge widerspiegeln, gelingt es dem Projekt um Ines Weizman, die Dynamiken und Komplexitäten des „Systems Architektur“ zu veranschaulichen. Denn es fragt nicht nur nach der historischen Perspektive, sondern verschränkt den Blick zurück mit dem nach vorn: Wie werden die Architekturen heute genutzt, welche Perspektiven haben sie, was sind potentielle Umgangsformen mit diesen Zeugnissen des „Second Life“?  

Das kollektive Forschungs- und Filmprojekt, das im Sommer 2014 an der Bauhaus-Universität Weimar mit Studierenden der Fakultät Architektur und der Fakultät Medien erarbeitet und ausgestellt wurde, gefiel der Jury aus mehreren Gründen außerordentlich. Ich zitiere aus dem Juryurteil: 

„Das Projekt verbindet historische Recherchen mit eigener Filmproduktion. Es stellt in vieler Hinsicht ein gelungenes Experiment in der universitären Lehr- und Forschungsarbeit dar. Die Beobachtung von städtischen Räumen, Gebäuden, Plänen und Dokumenten wurde mit der Dokumentation von Lebensgeschichten so verbunden, dass ein weitreichendes wissenschaftliches Netzwerk entstand, das von einer intensiven Literaturrecherche, Anfragen in städtischen und privaten Archiven und Sammlungen bis hin zu schriftlichen Korrespondenzen und Interviews mit Familienangehörigen, Bewohnern, Historikern, Denkmalpflegern und Experten reichte.“

Ines Weizman ist seit 2013 Junior-Professorin für Architekturtheorie am Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung der Universität Weimar. Sie studierte Architektur in Weimar und an der Ecole d’Architecture de Belleville in Paris, an der Sorbonne, an der University of Cambridge und bei der Architectural Association in London, wo 2005 auch ihre Dissertation mit dem Titel „The Disappearance of Everyday Life in East Germany Since Reunification“ entstand. Sie unterrichtete unter anderem an der Architectural Association, am Goldsmiths College London, am Berlage Institut für Architektur in Rotterdam und an der London Metropolitan University.

Sie ist Herausgeberin des Buches “Architecture and the Paradox of Dissidence” (2014) sowie zusammen mit Eyal Weizman von “Before and After: Documenting the Architecture of Disaster” (2014). Ines Weizman hat diverse Artikel und Aufsätze unter anderem in ARCH+ und im Harvard Design Magazine publiziert und Beiträge für diverse Sammelbände verfasst. Außerdem ist Ines Weizman auch als Künstlerin und Kuratorin tätig. So war ihre Installation „Repeat Yourself“ 2012 im Arsenale auf der Architektur Biennale Venedig und 2013 als Einzelausstellung im Architekturzentrum Wien und an der Columbia University, New York, zu sehen. In ihren Arbeiten verschränken sich Forschung und Vermittlung gegenseitig, ergänzen und bereichern sich.

Der Jury fiel der Punkt der Kollaboration und der Teamarbeit sehr angenehm auf. Die Studierenden des Projektseminars hatten die Möglichkeit, sich ganz konkret mit individuellen Beiträgen einzubringen. Die konzeptionelle und inhaltliche Arbeit zwischen Dozent*innen und Studierenden wurde hier tatsächlich einmal auf Augenhöhe betrieben. Und wie gut das Ergebnis einer solchen Konstellation sein kann, das zeigt sich ja hier. 

Weizman und ihr Team haben uns mit ihrem historisch-kritischen aber auch empirisch-emotionalen Zugang zu diesem wichtigen Thema überzeugt. Dieses Thema – das „Nachleben“ exilierter Architekturen und Architekt*innen – ist aufs Engste auch mit dem Leben und Werk von Hans und Lea Grundig verbunden. Diese Verbindung reicht weit über die geografischen Parallelen hinaus, berührt sie doch auch Fragen der Rezeption, der zeitgemäßen Vermittlung des Problemfeldes „Kunst/Exil – Exilkunst“ sowie der akademischen Erforschung und Aufbereitung schwieriger und unbequemer Themen.

Dieser Herausforderung haben sich Weizman und ihr Team auf vorbildliche Weise gestellt. Mehr noch: Sie haben nicht nur historische Grundlagenforschung betrieben, sondern auch Vermittlungsformen ausprobiert, die in die Zukunft weisen.

Weizman und ihr Team erweitern didaktisch aber auch methodologisch den wissenschaftlichen Diskurs, indem sie auf einer Mikroebene einzelnen Schicksalen, einzelnen Bauten, einzelnen Objekten größeren Platz einräumen. Kollektive Schicksale werden somit auch auf einer individuellen Ebene fassbarer. 

Auf der Makroebene koppelt das Projekt die Einzelschicksale an den zeithistorischen und sozialen Hintergrund und bindet sie in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Und es leistet eine beachtliche Vernetzungsarbeit auf internationalem Niveau und kann somit auch als vorbildhaft in seiner Nachhaltigkeit gelten, denn: 

Das Ausstellungsprojekt war im Juli und Oktober 2014 in Weimar zu sehen und im Mai 2015 im Max-Liebling-Haus in Tel Aviv – wieder eine Verbindung zu Lea Grundig! – dem Liebling-Haus, also an einem Ort, der selber ein Beispiel für das „Zweite Leben“ von Exilarchitektur darstellt und ab 2017 das „Kompetenzzentrum Weiße Stadt“ beherbergen wird.

Mittlerweile, so sagte mir Ines Weizman, sind nach der Ausstellung in Tel Aviv zu den neun ursprünglichen Filmen fünf weitere hinzugekommen. Eine institutionelle Verstetigung erreichte das Projekt mit der Gründung des „Centre for Documentary Architecture“ an der Bauhaus-Universität Weimar. Dieses untersucht Architektur mit besonderem Hinblick auf seine dokumentarischen Qualitäten. Wir können also alle miteinander guter Dinge sein, dass wir noch viel Gutes von Ihrem tollen Projekt, liebe Frau Weizman, hören werden. 

Ein Mitschnitt der Laudatio findet sich online unter www.rosalux.de/mediathek/media/element/632